Tim Willocks
„Einen Roman zu schreiben heißt einem Traum zu folgen“
09.2006 Exklusiv für die Histo-Couch, in einem allerersten deutschen Interview, spricht Tim Willocks über Recherchen, historische Waffen und die Bedeutung des Namens Tannhäuser.
Tim Willocks, Autor vieler Drehbücher und einiger erfolgreicher Thriller, erobert mit seinem neuen Roman „Das Sakrament“ nun auch die Leserschaft historischer Romane.
Dieses Interview liegt auch in der englischen Originalversion vor. Viel Spaß!
Histo-Couch: Erzählen Sie uns ein wenig von sich. Sie sind in England aufgewachsen?
Tim Willocks: Ich stamme aus einem Gebirgsstädtchen in den Pennines in Nord-England. Ich habe eine Schwester und zwei Brüder, alle jünger als ich. Mein Vater war Maurer (inzwischen ist er Rentner), meine Mutter arbeitete zu Hause. Ich besuchte katholische Privatschulen, zunächst bei den Schwestern der Hl. Familie von Bordeaux’ und dann bei den Xaverianern, ein Schulorden, der auf die Jesuiten zurückgeht. Studiert habe ich Psychologie und Medizin in London, wo ich 1983 auch promovierte. Danach arbeitete ich bis 2003 als Arzt und Psychiater.
Histo-Couch: Wie steht es mit Hobbies und Interessen außerhalb der Arbeit?
Tim Willocks: Seit 20 Jahren beschäftige ich mich mit Shotokan Karate, bis heute trainiere ich mindestens vier Stunden pro Woche. Ich gehe gern spazieren und klettere auch, oft in den Kerry Mountains in Irland. Dabei fühle ich mich so richtig frei, weit weg von Menschen. Dort empfinde ich auch ein tiefes Gefühl der Ewigkeit.
Ich spiele ein wenig Gitarre und reite gern, bin aber für beides nicht wirklich begabt. Ich mag Filme, besonders ältere Western. Mich fasziniert die Verbindung zwischen Mensch und Landschaft, den einzelnen Charakteren und der Weite des Raums. Ich bewundere Regisseure wie Leone, Kubrick, Visconti, Peckinpah, Michael Mann, Kurosawa.
Histo-Couch: „Das Sakrament“ ist Ihr erster historischer Roman. Bisher haben Sie Thriller geschrieben. Wie kamen Sie zum historischen Roman?
Tim Willocks: Ich habe schon sehr viel geschrieben, Drehbücher vor allem, insgesamt achtzehn. Diese sind in allen Genres angesiedelt, Krimi, Tragödien, Komödien, Thriller und auch historische Liebesgeschichten. Es war also nicht wirklich ein großer Sprung für mich zum historischen Roman.
Das Wichtigste für mich sind die Charaktere. Ich versuche mir vorzustellen, wie sie fühlen, denken, woran sie leiden, was und wen sie lieben, wie sie sich entscheiden. Was sie ausmacht, was sie bestimmt in ihrem eigenen Leben zu einer bestimmten Zeit, zu einem Zeitpunkt. Im Vordergrund steht zunächst das Leben des Einzelnen, aber ich versuche das ins Allgemeine, ins Größere übertragbar zu machen. Wie uns Homer und Shakespeare, aber auch Wagner, Tolstoi oder Kubrick zeigen, um nur einige wenige zu nennen, übersteigt das Dramatische an sich jedes Genre, jeden Ort, jede Form und letztlich auch die Zeit. Ich konzentriere mich also in allererster Linie auf das Drama, auf Emotionen und Konflikte von Charakteren in einer sehr lebendigen Welt.
Zugleich nütze ich auch den Umstand, dass der historische Roman einem viel Freiheit gewährt, was die Form und Inhalt anbelangt. Er ist nicht Moden unterworfen, keinen literarischen Zeitströmungen und auch nicht allen Regeln der Political Correctness. Dieses freie Arbeiten gefiel mir sehr.
Was mir auch gefiel, war die Möglichkeit mit einer reichen und vielfältigen Sprache zu arbeiten. Wenn man, wie heute in der Literatur sehr verbreitet, sich nur auf eine ganz moderne Sprache beschränkt, weil man glaubt, dass das authentisch sei, ist das Ergebnis oft regelrecht blutarm und trocken im Vergleich zur sprachlichen Fülle früherer Zeiten.
Ich suchte eine Verbindung von Wörtern und Sätzen, die reichhaltig, großartig und schön waren, ohne dabei Direktheit und Klarheit aufzugeben. Eine Romanhandlung, die im 16. Jahrhundert spielt, einer Zeit, in der die Schönheit des Worts bewundert wurde, bot mir die ideale Möglichkeit zu arbeiten und zugleich einer eigenen Leidenschaft nachzugehen.
Histo-Couch: Die deutschen Werbeanzeigen für Ihr Buch bringen Sie mit Ken Follett in Verbindung. Hatte er Einfluss auf Ihr Werk?
Tim Willocks: Ich habe Ken Follett nie kennen gelernt, noch kenne ich seine Romane. Wir haben allerdings den gleichen Agenten, Albert Zuckerman, der auch das Writers House in New York begründet hat. Mr. Zuckerman, der wusste, wie lange ich schon an meiner Romanidee herumbastelte, hat mich kurzerhand eingeladen, in seinem Landhaus im Staat New York zu arbeiten. Das hatte sicher Einfluss auf den Roman, der größte wohl unbewusst. Einen direkten Einfluss hatte Al Zuckerman, der ein sehr großes Verständnis für Autoren mitbringt, für ihre Schwierigkeiten und Emotionen und noch dazu enorme Erfahrung hat, sie in ihrer Arbeit an großen und kompliziert gebauten Romanen zu unterstützen. Ich kann ihn nur jedem Autor, der sein Buch bei einem Verlag unterbringen möchte, empfehlen.
Da ich die meiste Zeit meines Lebens in großen Städten wie London, New York und Los Angeles zugebracht habe, war die Möglichkeit auf dem Land zu arbeiten für mich wohl die größte Hilfe und Inspiration. Ich glaube nicht, dass ich es geschafft hätte diesen Roman in der Stadt zu schreiben. Die überwältigende Natur, der Wald, die Jahreszeiten, der Himmel, die Sterne in der Nacht, all das trug dazu bei, mich in den Zustand zu versetzen, der halb Traum, halb Trance war und in meinen Augen einfach notwendig, um „Das Sakrament“ zu schreiben.
Ich erinnere mich noch sehr deutlich daran, wie ich aus London abreiste, mit dem Gefühl einer riesigen Aufgabe vor mir, der Aufgabe eine ganz neue Welt zu schaffen, die der unseren so fern und unähnlich ist. Eine Welt, die ich bis dahin ja selber nicht kannte. Ich musste mich öffnen, dafür all meine Sinne einsetzen und Al Zuckermans Haus in den Wäldern war der ideale Ort dafür, die eigentliche Welt zu vergessen und in die neue einzutauchen. Das Leben und Arbeiten dort gehört zu den besten und schönsten Erfahrungen, die ich je gemacht habe, eine, die man vielleicht nur ein einziges Mal im Leben macht.
Histo-Couch: Der Originaltitel Ihres Buchs lautet „The Religion“, der deutsche Titel „Das Sakrament“. Was halten Sie von diesem Titel?
Tim Willocks: Mir gefällt „Das Sakrament“ sehr gut. Es klingt selbstbewusst und kraftvoll, was ich vom Originaltitel auch erhofft habe. Ich weiß nicht, warum Verlage Titel ändern, ich verlasse mich auf ihr Urteil. Auf jeden Fall haben sie ein ungewöhnlich schönes Buch daraus gemacht. Zu meinem Bedauern verstehe ich kein Deutsch, aber ich nehme an, dass die Übersetzung nicht leicht war. Die Johanniter, der Orden, von dem mein Buch handelt, nannten sich ja selbst „Die Religion“ und sprachen von ihrem Orden stets als „Unsere Heilige Religion“. Das ist also ein Grund für den englischen Titel.
Ein zweite Bedeutung bezieht sich auf Krieg, Christentum, Islam und, ganz, ganz wichtig, die Liebe. Ich kann mir vorstellen, dass der deutsche Titel eben diese Assoziationen auch weckt. Am allerwichtigsten aber ist es, dass die Leser ein reiches und unvergessliches Leseerlebnis haben.
Histo-Couch: Waren Sie auch in Malta und Sizilien für Recherchen zu dem Roman? Wenn ja, wie lange waren Sie dort?
Tim Willocks: Ja, tatsächlich habe ich Lauf einiger Jahre immer wieder Wochen auf Malta und Sizilien, in Istanbul, Jerusalem und Rom verbracht. Ich nehme an, dass jeder Autor seine eigene Art hat, Material zu sammeln. Ich suche vor allem Atmosphäre an den Orten, an denen meine Handlungen spielen, ich mache mir nicht unbedingt viele Notizen. Ich weiß nie im Voraus, welche Details ich brauche, ehe ich nicht die Szene schreibe. So versuche ich, die Steine unter meinen Füßen zu spüren, die Verschiedenheit des Lichts aufzunehmen und die Landschaft um mich herum, mir vorzustellen, wie ein Leben in dieser Umgebung aussehen würde und zwar nicht im Jetzt, sondern früher. Ich kann sagen, dass ich auf solchen Reisen ein Gefühl und eine Vorstellung des Wunders gelernt habe, der Ehrfurcht vor der Welt, die uns die moderne Welt gestohlen hat. Vielleicht sogar ein Gespür für das Göttliche.
Istanbul und Malta sind heute nur wenige Flugstunden von uns entfernt, damals waren sie sozusagen am anderen Ende der Welt. Heute leben wir im Westen vor allem in einer Welt des Konkreten, Materiellen, dessen, was rational erfahrbar ist, beweisbar, berührbar, messbar. Damals war das Leben – so hart und grausam es auch war – von einem Gefühl, einem Wissen von den Bereichen des Transzendenten durchdrungen. Ich selbst bin auf einer sehr einfachen Stufe, auch gemessen am psychologisch-wissenschaftlichen, überzeugt, dass die Fähigkeit, das Göttliche zu spüren, die Unendlichkeit, alles, was über uns hinausgeht, ein Bedürfnis ist, das im Menschen tief verwurzelt ist. Es ist auch eine sehr menschliche Fähigkeit, selbst wenn sie nicht mit dem Verstand messbar ist und daher zunächst nicht erkannt werden kann.
Diese Fähigkeit zu bestreiten, sie sogar zu fürchten, erscheint mir geradezu gegen den Verstand zu sein. Denn auch der Verstand, mit dem wir alles durchdringen und alles beherrschen, kann nicht überallhin gelangen. Es gäbe keine Kunst, wenn es nur vom Verstand abhinge. Wenn wir unsere Vorstellung von Wissen nur auf das rational Erfahrbare beschränkten, gäben wir einen grundlegenden Teil unseres Menschseins auf. Eine der großen wunderbaren Erfahrungen, die ich machte, als ich diesen Roman schrieb, war es eben, eine Welt zu betreten, in der es ein solches Gefühl von Transzendenz und Geheimnis gab, in der all das als absolut realistisch angesehen wurde.
Als Arzt habe ich viel wissenschaftlich gearbeitet, daher beginnen meine Recherchen oft sehr geregelt, auch wenn ich das nicht will, aber alte Gewohnheiten legt man nicht so leicht ab. Ich möchte aber eher mein Unterbewusstsein arbeiten lassen, Eindrücke in mir wirken lassen, Archetypen aufspüren. Und beim Schreiben habe ich dann auch gemerkt, dass ich selten meine Notizen hervorgeholt habe oder Fotos angesehen, sondern eher die Gefühle wachgerufen, die ich vor Ort instinktiv empfunden hatte. Ich habe alte Kathedralen, Kirchen und Moscheen besucht und auch an Gebeten oder Messen teilgenommen. Ich habe versucht, für alle Formen offen zu sein.Dabei ist für mich das Unbewusste besser als der Verstand, der sich doch oft gegen emotionale oder künstlerische Wahrheit stellt.
Einen Roman zu schreiben so wie ich ihn mir vorstelle, heißt, einem Traum zu folgen und zwar einen, den auch andere träumen können. Hält man sich zu stark an das, was allein der Verstand zeigt, kann das den ganzen Traum zerstören.
Schließlich habe ich sehr gründlich alle historischen und geographischen Details überprüft, einschließlich meines benutzten Vokabulars, denn ich wollte nicht, dass es allzu anachronistisch klingt. Ich rechne damit, dass viele Fehler gefunden werden, aber ich hoffe, dass es nicht solche sind, die das Lesevergnügen beeinträchtigen. Die Literatur, die Briefe und Zeitungen aus der Zeit zu lesen war gleichfalls sehr wichtig. Wie immer erwies sich Shakespeare als guter Freund. Aber auch Montaigne und das Neue Testament in der Übersetzung von Tyndale. Die Gemälde der Zeit waren höchst wertvoll, manch eines ersetzte mir eine halbe Bibliothek. Peter Robbs großartige Caravaggio-Biografie war ungemein anregend, auch für den Geist der Epoche. Ich habe viel Musik gehört, auch wenn auch aus dieser Zeit wenig überliefert ist. Ein Ersatz bot die Gamben-Musik des Barock, die ich überhaupt empfehlen kann, wenn man die Schönheit einer anderen Welt, der jenseitigen, hören will (besonders Aufnahmen von Jordi Savall und Paolo Pandolfo). Ich fand sie ungemein inspirierend.Um die Renaissance-Welt nachzuempfinden waren Musik und Malerei von fast größerer Bedeutung als die Recherchen vor Ort. Die gaben mir die Äußerlichkeiten, jene aber einen Einblick ins das Herz der Zeit. Beobachtung und Notizen machen die Landkarte aus, aber sie ergeben nicht das Land an sich, das gibt uns die Kunst. Das ist ihre Größe und Geheimnis, jedenfalls glaube ich das.
Histo-Couch: Der historische Hintergrund Ihres Romans ist die Große Belagerung Maltas 1565. Haben Sie historische Persönlichkeiten in Ihren Roman übernommen? Oder Ihre Charaktere nach historischen Persönlichkeiten geformt?
Tim Willocks: Es gibt einige historische Persönlichkeiten im Roman, La Valette, Oliver Starkey, Michele Ghisleri, Le Mas vor allem. Ich war sehr vorsichtig, dass ich mir bei ihnen nicht zu große Freiheiten herausnehme. Es ist aber so, dass ihre politischen Taten breit dokumentiert sind, ihr private Leben aber kaum.
Ich sagte mir schließlich, dass auch Shakespeare freizügig mit Cäsar oder Heinrich V. verfahren ist – er hat ja das Meiste einfach erfunden – aber trotzdem fühlte ich mich bei meinen erfundenen Personen am wohlsten. Und sie nehmen auch den größten Teil des Romans ein.„;Geformt“; ist zu stark, aber ich versicherte mir immer wieder, dass Tannhäuser sicher weit gereist war, abenteuerlustig wie Männer wie Blaise Montluc oder Hernan Cortes, und es gab auf jeden Fall viele Verbindungen zwischen Christen und Moslems, tatsächlich mehr, als ich zunächst gedacht hatte.
Die Person von Dr. John Dee bot einige Ideen für meinen Petrus Grubenius und die Malerin Artemisia Gentileschi beeinflusste die Gestalt von Carla. In Sabato Savi finden sich Züge verschiedenster historischer Persönlichkeiten, „Moshe Mosseri“ geht auf jemanden zurück, den es wirklich gab. Die Karriere des Inquisitors Alexandrini war zu einem guten Teil das Vorbild für die von Ludovico.In der Hauptsache aber ging es mir darum, nicht unbedingt biographische Einzelheiten zu übernehmen, sondern sozusagen ein Echo zu finden, ein Äquivalent für die Art, wie sie lebten, dachten, handelten. All meine erfundenen Charaktere sind originell und einzigartig, aber obwohl sie außergewöhnlich sind, würden sie in ihrer Zeit nicht als verrückt oder andersartig betrachtet werden.
Das war ein weiterer Grund für mich, eben dieses Thema zu wählen: Unsere Welt ist eine furchtsame, schüchterne Welt, in der kühnes Handeln fast als kriminell betrachtet wird. In der Vorstellung der Welt, in der ‚Das Sakrament’ spielt, war Kühnheit eine der größten Tugenden.
Histo-Couch: Sie beschreiben zahlreiche Kämpfe mit historischen Waffen sehr ausführlich. Interessieren Sie sich dafür? Ist es ein Hobby?
Tim Willocks: Mich faszinieren Kampftechniken aller Zeiten, international. Ich übe allerdings nur eine aus, Shotokan Karate. Ich habe Freunde, die mit mittelalterlichen Waffen umgehen können und ich habe mich auch eine Menge Einzelheiten zur Kampftechnik des 16. Jahrhunderts angesehen. Viele Re-Enactment-Gruppen betreiben das sehr ernsthaft und einige angesehene Waffensammlungen, wie zum Beispiel das Royal Armouries- Museum in Leeds, haben auch erstklassige Kämpfer. Es ist schon recht überraschend, einen Mann in voller Rüstung Radschlagen zu sehen oder einen Salto machen.
Jede Waffe hat ihre eigenen Schwierigkeiten und Feinheiten im Gebrauch, aber Platzmangel hat verhindert, dass ich mich darüber weiter ausließ. Ich gebe zu, dass ich im Lauf verschiedener Bearbeitungsgänge des Romans eine Menge technischer Details wieder gestrichen habe, weil ich fürchtete, dass sie die Leserinnen und Leser doch langweilen würden, vor allem, wenn sie nicht so fasziniert sind von Waffen und Kämpfen wie ich.Was ich unbedingt darstellen wollte, war, wie grausam und anstrengend es ist zu kämpfen – also eher die Auswirkungen auf den Körper als die reine Technik – sowie die enorme geistige Anspannung, die man braucht, um zu überleben. Atmen, Fußarbeit, das Brennen in den Muskeln, Übelkeit, das Unterdrücken der Angst und natürlich das unvergleichliche Hochgefühl, das man empfindet – noch eine verbotene Wahrheit, die uns die moderne liberale Welt vorenthält. All das kann man in einer zweistündigen Karateübung nicht haben, in der keiner versucht, einem wirklich wehzutun und daher habe ich größte Hochachtung vor den Kämpfern jener Zeit.
Histo-Couch: Wie kamen Sie auf diesen äußerst interessanten, aber fast gänzlich unbekannten historischen Hintergrund?
Tim Willocks: Ich bin immer sehr aufmerksam, wenn es darum geht, eventuelle Themen für echte dramatische Situationen oder Konstellationen aufzuspüren, Konstellationen, bei denen ich extreme Gefühle und Erfahrungen von Menschen erkunden kann. Als ich beispielsweise in einer psychologischen Zeitschrift einen Artikel über einen Gefängnisaufstand in New Mexico las, regte mich das an, den Roman „Green River Rising“ zu schreiben. (Erschienen in Deutschland unter dem Titel „Die Gefangenen von Green River“, Anm. der Red.)
Auf die Belagerung von Malta dagegen stieß ich, als ich in den frühen neunziger Jahren das Stück „Der Jude von Malta“ des englischen Dramatikers Christopher Marlowe für meine kleine Theatertruppe, Kurtz, produzierte. Das Stück ist ja, grob gesprochen, um die Zeit jener Belagerung angesiedelt und das veranlasste mich in der Folgezeit dazu, mehr darüber in Erfahrung zu bringen. Ich wusste sofort, dass das genau der Hintergrund war, zu dem ich einfach eine Geschichte schreiben musste, aber es vergingen noch viele Jahre, ehe ich tatsächlich damit begann.
In der Zwischenzeit schrieb ich noch einen anderen Roman „Bloodstained Kings“ (Erschienen in Deutschland unter dem Titel „Rachegöttin“, Anm. der Red.) und Drehbücher, darunter drei Spielfilme (keiner davon war finanziell erfolgreich, muss ich leider sagen).Als ich von Hollywood genug hatte, – eine umwerfende und höchst komplexe Industrie, für die ich, nebenbei bemerkt, die größte Bewunderung hege – verzog ich mich in die Wälder im Staat New York und stürzte mich in die Arbeit am „Sakrament“.
Das Theaterstück von Marlowe ist ganz ungenau, was die historischen Details angeht, wenn es auch nur wenige Jahre nach der Belagerung geschrieben wurde, seine Hauptfigur, Barabas, aber ist eine Gestalt von außergewöhnlichen Dimensionen und höchster Komplexität. Von heute aus gesehen, ist der Anti-Semitismus des Stücks einfach zu durchschauen, er ist fast platt – an Barabas gemessen kommt einem Hannibal Lecter wie Homer Simpson vor – aber tatsächlich ist Barabas noch weit mehr als Shakespeares Shylock das Opfer einer schrecklichen Ungerechtigkeit, bevor er seinen Rachefeldzug beginnt und voll Wut und Trotz gegenüber einer Horde selbstgerechter Schweine untergeht. Er ist unzweifelhaft der Held der Geschichte. Das setzte auch den Maßstab für viele weitere jakobinische Rachedramen und hat sicher auch Shakespeare beeinflusst, besonders wohl Titus Andronicus.
Das Stück war seit mehr als zweihundert Jahren in London nicht mehr aufgeführt worden, als wir mit unserer Produktion begannen. Es ist wirklich lesenswert, aber es ist es auch wert, dass man es sich ansieht – und es wirft ein interessantes Licht auf unsere Vorstellung von „historischem Erzählen“. In seiner Zeit war es eine aktuelle Geschichte, aber heutzutage hat es alle Elemente, die wir in solchen Geschichten suchen, wenn sie gut sein soll: außergewöhnliche Handlung, lebendige Charaktere, Leidenschaft, Intrigen und literweise Blut.
Histo-Couch: Das ist Ihr erster historischer Roman. Werden Sie weitere schreiben? Wird „Das Sakrament“ einen zweiten Band bekommen?
Tim Willocks: Ich plane tatsächlich eine Trilogie – also noch zwei Bände – über Tannhäuser und Carla. Aber es gibt noch weitere Pläne zu anderen Geschichten. Sollte ich alt genug werden, würde ich gern noch eine Trilogie über die 1930er und 40er in Europa schreiben. Und dann gibt es da noch eine Idee für eine Geschichte, die in um 1870 in Australien spielt, die ich sehr gern ausarbeiten würde.
Histo-Couch: Und woran arbeiten Sie gerade jetzt?
Tim Willocks: Zur Zeit arbeite ich tatsächlich am zweiten Band der Tannhäuser-Geschichte, sie wird 1572 und in Paris spielen.
Histo-Couch: Sie haben schon Drehbücher geschrieben. Können Sie sich vorstellen, ein Drehbuch für „Das Sakrament“ zu verfassen? Und können Sie sich schon einen Schauspieler für die Hauptrolle vorstellen?
Tim Willocks: In einer idealen Welt könnte man einen ganz wundervollen Film aus „Das Sakrament“ machen, obwohl selbst ein Drei-Stunden-Opus eine stark gekürzte Fassung des Buchs erfordern würde. Ich könnte mir tatsächlich vorstellen, das Drehbuch selber zu schreiben, obwohl mir die Erfahrung und besseres Wissen dazu raten würden, lieber einen weiteren Roman zu schreiben. Ich müsste jetzt sehr weit ausholen, um zu erklären, warum ein solcher Film nur unter großen Schwierigkeiten würde finanziert und produziert werden können, selbst wenn er nur eine schwache Ähnlichkeit mit der Handlung des Buchs hätte.
Tatsächlich versucht Al Zuckerman die Filmrecht zu verkaufen, wer weiß, was noch daraus wird? Ich bin auf jeden Fall gespannt darauf.
Was die Besetzung betrifft, so denke ich nie an bestimmte Schauspieler, wenn ich einen Charakter entwerfe, weil die Ausstrahlung und das Können eines Schauspielers die Entwicklung einer Figur beeinträchtigen. Um ein offensichtliches Beispiel zu nehmen, wenn man sich Eastwood vorstellt, dann darf die Romanfigur nicht viel zu sprechen haben und muss auf eine bestimmte Weise reagieren, man selber will aber, dass sie viel sagt und ganz anders handelt.Man muss auch bedenken, dass Filme, was Charaktere betrifft, sehr viel einfacher sind als Romane, was die innere psychologische Entwicklung und die Handlung angeht. Filme, das liegt in ihrer Natur, enthalten davon eigentlich sehr wenig. Das Genie von Schauspielern, Regisseuren, Drehbuchautoren und Filmkomponisten besteht eben darin, eine solche Komplexität vorzutäuschen. Dabei ist das menschliche Gesicht eines der faszinierendsten Mittel.
Es gibt viele hervorragende Schauspieler, die Tannhäuser spielen könnten, wenn ich auch zugeben muß, dass meine Lieblingsschauspieler dafür alle schon tot sind. Und da ich ja auch weiterhin mit Tannhäuser arbeiten möchte, das heißt mit seiner Erlaubnis, denn er durchwandert meine Traumwelt höchst lebendig und selbstständig, ungeachtet dessen, was ich eigentlich will, bin ich in dem Punkt lieber ganz still.
Histo-Couch: Der Name Ihres Helden, Matthias Tannhäuser geht auf die deutsche Tannhäuser-Sage zurück. Die Sage entstand über hundert Jahre bevor die Türken begannen, Malta zu erobern. Hat die Tannhäuser-Sage Ihren Roman beeinflusst?
Tim Willocks: Ja, der Name hatte einen großen Einfluss auf meine Geschichte, aber ich sage „der Name“ und weniger die Sage. Mattias sagt an einer Stelle im Roman eben zu diesem Thema: „Ein Name hat eine ganz eigene Macht“ und genauso kommt es. Jeder von uns hat eine ganz eigene Beziehung zu so etwas wie Namen. Für viele Leser, wenigstens die englischsprachigen, wird der Name Tannhäuser neu sein oder aber nur geringe Bedeutung haben. Um eure Frage beantworten zu können, werde ich euch erzählen, wie ich zu diesem Namen stehe.
Schon in einem sehr frühen Stadium, noch im Entwurf, wünschte ich mir den Namen Tannhäuser für meinen Helden. Dennoch zögerte ich sehr lange, bevor ich es wagte, ihn zu benutzen. Für mich persönlich ist es einer der großartigsten Namen, die man je geschaffen hat, das war der Grund, warum ich zögerte. Die allererste klassische Musik, die ich je hörte, war eine Aufnahme von Wagners Tannhäuser-Ouvertüre. Ich war ca. neun Jahre alt und hatte die Platte von einer Freundin meiner Mutter bekommen. Ich war überwältigt von der Musik und von diesem Gefühl des gespenstischen, gequälten Heldentums, das sie hervorrief. Ich bin es bis heute.
Damals kam es mir vor wie die Musik für einen absolut verblüffenden Film, den ich nie gesehen hatte und einem überlebendgroßen Helden. Der Name nahm also schon in meinen Kindheitsvorstellungen einen riesigen Platz ein.Sehr viel später, in meinen Zwanzigern, lernte ich die ganze Oper kennen und damit auch die Sage, wie Wagner sie auffasste. Schließlich entdeckte ich auch Wagners Gesamtwerk. Hier ist nicht der Ort, über Wagner zu diskutieren, da ist ja einiges kontrovers, aber eben die Tatsache, dass er so einzigartig ist, gab dem Namen Tannhäuser in meinen Augen nur noch mehr Gewicht.
Als ich die Geschichte rund um die Große Belagerung von Malta zusammenspann und dafür einen Helden suchte, war mir von Anfang an klar, dass der Held ein Deutscher sein musste. Das war zunächst ein persönlicher Wunsch und eine Art Instinkt, dazu kamen später noch eine Reihe rationaler Gründe. Rückblickend muss ich sagen, dass diese Entscheidung das Buch gewaltig bereichert hat.Prinzipiell hätte er natürlich auch eine ganz andere Nationalität haben können. Für mich aber konnte er kein anderer sein, nichts sonst war so geeignet, ihm gerade in jenem historischen Augenblick diese Tollkühnheit und die Komplexität zu verleihen. Ich wusste, dass er Tannhäuser heißen musste, Tannhäuser hieß!
Ich wusste, wie Ihr schon sagtet, dass die Sage älter ist als die Zeit, in der der Roman spielt, und so dachte ich, wenn Wagner das benutzen kann, warum nicht ich auch?Es ist nicht unbedingt ein Name, mit dem man zur Welt kommt, aber in jenen Tagen war es nichts Ungewöhnliches für einen Söldner, sich einen anderen Namen zu geben und dieser bot die perfekte Lösung. Dass sich Mattias den Namen selbst gibt und dass es eine mutige Entscheidung war, machte die Figur nur stärker und auch die Wahl des Namens noch wertvoller.
Also habe ich den Namen gewählt, weil ich ihn liebe und weil er soviel zum Ausdruck bringt an Kraft und Mut, weil er eine gewisse Macht hat, nicht etwa, weil die Sage etwas damit zu tun hat.Wegen des Gewichts und dem Ausmaß an Bedeutung, die der Name mit sich bringt, noch dazu historisch gesehen über Wagner sowie in meiner eigenen Vorstellung, mussten sowohl die Figur als auch die Geschichte höchsten Ansprüchen genügen. Es war eine Art Fehdehandschuh, der mir da vor die Füße geworfen worden war: Dieser Name verlangte ständig von mir, dass der Roman dem Anspruch entsprach.
Erst nach Abschluss des Buchs stellte ich fest, dass es tatsächlich einige grobe Parallelen zur Sage gibt – ein umherirrender Abenteurer, voller Sehnsüchte und Lebensgier, der sich in der Liebe verfängt; ein Mann, der gefangen ist in den Regeln und der Heuchelei seiner Zeit; ein Mann, der das Gefühl hat, dass er Gott verloren hat, der zugleich aber versucht, seine Seele zu retten.Trotzdem ist der Roman keine Wiedergabe der Sage, noch hat mich die eigentliche Sage angeregt. Die Inspiration war allein der Name.
Histo-Couch: Vielen Dank für dieses besonders ausführliche Interview. Wir wünschen Ihnen viel Erfolg mit Ihrem neuen Roman und auch weiterhin alles Gute!
Das Interview führten Katharina Lewald in Zusammenarbeit mit Carsten Jaehner. Vielen Dank an Dr. Sabine Heißler für die Übersetzung aus dem Englischen ins Deutsche.
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