Roy Jacobsen
„Mich interessieren historische Paradoxe“
07.2010 Die Histo-Couch im Interview mit Roy Jacobsen über seinen Roman „Das Dorf der Wunder“, die „Schlacht von Suomussalmi“ und „Kleinigkeiten“ in einem Roman.
Histo-Couch: Herr Jacobsen, Sie sind Norweger, haben ein Buch über einen Krieg in Finnland geschrieben, und wir unterhalten uns darüber auf Deutsch. Wie geht das?
Roy Jacobsen: Ich war immer schon von Finnland und der finnischen Literatur fasziniert nach Finnland zu reisen ist eigentlich wie in etwas ganz Fremdem zu landen, wo ich mich aber trotzdem wie zu Hause fühle. Finnisch gehört nicht zu den indoeuropäischen Sprachen, und nicht nur die Kultur, sondern auch die Geschichte Finnlands ist sehr unterschiedlich von der norwegischen. Trotzdem haben wir viel Gemeinsames eine enge ökonomische Zusammenarbeit, besonders im Norden, wir haben sehr ähnliche politische und wirtschaftliche Strukturen, wir waren beide Kolonien (von Dänemark und Schweden) – die kleinen Geschwister Skandinaviens sozusagen, und haben noch immer unsere datierte underdog-Mentalität nicht abgelegt. Das heutige Finnland sieht aus wie eine Mischung aus einem modernen Canada und dem Norwegen der sechziger Jahre – ein Spaziergang in den Straßen der
finnischen Kleindörfer wird somit zu einer Wanderung in meiner eigenen Kindheit.
Die Antwort auf Ihre Frage ist aber komplexer: ich interessiere mich für Geschichte, insbesondere Kriegs- und Militärgeschichte, und habe mich intensiv mit dem Zweiten Weltkrieg beschäftigt, wie man z.B. in meinem Roman „Grenser“ (auf Deutsch „Die Mühle am Fluss“ , btb 2003) lesen kann, und dazu gehört auch der finnische Winterkrieg. Die Schlacht von Suomussalmi ist sehr berühmt und heute noch Pflichtlektüre aller großen Militärakademien. Mich interessiert aber hauptsächlich das Schicksal der kleinen Menschen im Getriebe der Geschichte, Leute, die Ausnahmen sind und dadurch das Typische oder Allgemeine in Relief zu stellen vermögen. Also sehe ich „Die Mühle am Fluss“ und „Das Dorf der Wunder“ nicht als traditionelle historische Romane an, sondern eher als Gegenwartsromane in geschichtlicher Verkleidung; das heißt, ich suche die Konflikte und die menschlichen Mentalität und Reaktionen, die noch immer Aktualität haben.
Ja, und meine Deutschinteresse die verdanke ich eben auch meiner Neugier und meinem Interesse an Menschen und Geschichte, das heisst meinen vielen Aufenthalten in Belgien und Deutschland, meinen deutschen Schriftstellerkollegen – und meiner Schwiegermutter.
Histo-Couch: Was bedeutet der Originaltitel „Hoggerne“, und was denken Sie über den deutschen Titel „Das Dorf der Wunder“?
Roy Jacobsen: Der Originaltitel bedeutet so viel wie „Die Hacker“ (Holzhacker), was im Norwegischen einige aggresive Konnotationen hat; „Hacken“: kräftig zubeißen, hauen, schlagen, kaputtmachen … aber auch das friedliche Holzhacken, also ein Beruf für den Krieg wie für den Frieden. Ich bin sehr zufrieden mit dem deutschen Titel. Auf Englisch heißt der Roman „The burnt out town of Mirakles“, ein bisschen umständlich, aber auch gut. Die Franzosen wollen aber den Originaltitel behalten.
Histo-Couch: Die Schlacht von Suomussalmi ist für uns „Zentraleuropäer“ eher nicht sehr bekannt. Was hat Sie dazu bewogen, sie in einem Roman zu verewigen?
Roy Jacobsen: Suomussalmi kann als ein Präludium zu Stalingrad verstanden werden, womit ich mich in „Die Mühle am Fluss“ beschäftigt habe; große eingekesselte militärische Einheiten, die langsam zu Grunde gehen/vom Feind vernichtet werden. Die zwei Romane sind also thematisch miteinander verbunden. Noch ein Moment – die Finnen waren um diese Zeit auf der „falschen Seite“, sie haben sogar ihren sogenannten Fortsetzungskrieg gegen die Sowjetunion – im Sommer 1941 mit der deutschen Operation Barbarossa zusammenorchestriert, mit ungefähr demselben melancholischen Resultat; halb Karelien ging ja hierdurch verloren. Nach dem Krieg waren sie aber trotzdem im Geheimen stolz auf ihren unglaublichen militärischen Einsatz mit Recht, meiner Ansicht nach, wir reden hier von David und Goliath im wahrsten Sinne. Aber gerade diese historischen Paradoxe interessieren mich – tapfer kämpfen für die „falsche“ Sache/ auf der „falschen“ Seite? Was hat das im Nachhinein zu bedeuten für die Identität der Beteiligten, der Überlebenden, ja, für die ganze Nation? Und – welche Art Geschichten werden es daraus, wahre oder verlogene?
Histo-Couch: Die Hauptfigur des Romans ist Timo Vatanen, ein Holzfäller, der gegen jeden Rat als einziger in Suomussalmi zurückbleibt, als die Bewohner den Ort verlassen. Hat er von Ihnen einige Charakterzüge geerbt?
Roy Jacobsen: Ja, sicher, alle meine Charaktere haben etwas mit mir zu tun. Ich bin selbst ein leidenschaftlicher Holzhacker, war auch eine zeitlang als Waldarbeiter tätig. Hauptsache ist aber, dass mein Held Timo seine genuin reaktionäre Einstellung in etwas ganz Radikales umsetzt als Einziger im ganzen Dorf will er nicht evakuiert werden, seine Heimat verlassen, egal was passiert. Er weist also eine Mischung aus Mut und sturer Dummheit auf und gelangt dadurch zu ganz neuen und bemerkenswerten Einsichten in sowohl sich selbst als auch seiner Umgebung.
Histo-Couch: Waren Sie auch für Recherchen vor Ort in Suomussalmi und haben vielleicht noch mit Zeitzeugen von damals sprechen können?
Roy Jacobsen: Ja, ich habe natürlich die Arena des Romans besucht, auch das Historische Museum in Raatevaara, aber leider habe ich mich nicht mit Veteranen unterhalten können, was mir geglückt war, als ich an „Die Mühle...“ arbeitete. Die wichtigste Quelle war aber die wunderbare Studie von William Trotter: „The Winter War“ (2002 Aurum Press Ltd). Ich lege viel Wert darauf, dass die historischen Details im Rahmen meiner fiktiven Geschichte so gut wie möglich recherchiert und dokumentierbar sind.
Histo-Couch: Haben Sie ihre Recherchen vor Ort auch im Winter bei -40° Grad gemacht, so dass Sie den Gegebenheiten im Roman relativ nahe gekommen wären?
Roy Jacobsen: Ich bin Norweger und habe ein halbes Leben über dem Polarkreis verbracht, ich weiss schon, was Kälte ist.
Histo-Couch: Timo bekommt ein paar heeresuntaugliche Russen zum Holzhacken zur Seite gestellt, und gegen alle Widerstände bildet sich sogar fast eine funktionierende Gruppe aus den verschiedenen Charakteren. Von ihnen hat jeder seine kleinen Macken, wie der Russe, der Damenschuhe sammelt. Wie wichtig sind solche kuriosen Kleinigkeiten für eine gut erzählte Geschichte?
Roy Jacobsen: Solche „Kleinigkeiten“ sind sehr wichtig, um die Wahrscheinlichkeit des Romans zu untermauern ich operiere ja in der Tradition des realistischen Romans, und 'kuriose’ gehören normalerweise zur Realität und nicht zur Fiktion. Noch dazu ist diese „Kleinigkeit“ mit den roten Schuhen sogar eine wahre Geschichte, wie auch die merkwürdige Tatsache, dass einige Einwohner ihre Häuser schön sauber machten, bevor sie abgebrannt wurden „damit das Geschenk an Finnland so schön wie möglich sein sollte.“ (Zitat Trotter u.a.)
Histo-Couch: Der Roman spielt während der Schlacht, aber man bekommt von den eigentlichen Kämpfen wenig mit. Ist „Das Dorf der Wunder“ dann überhaupt ein Kriegsroman?
Roy Jacobsen: Gute Frage. Nein, das ist wirklich kein traditioneller Kriegsroman, es ist Timos Krieg, der geschildert wird, im subjektivsten Sinne des Wortes. Timo ist ein sogenannter unzuverlässiger Erzähler das Thema des Romans sind ja nicht die dramatischen Begebenheiten um Suomussalmi, sondern was diese Begebenheiten mit den Menschen u.a. Timo machen; wie kann man solche Erfahrungen verkraften; dass heißt – wie muss die Geschichte im nachhinein geschrieben werden, damit man sie bewältigen kann, um weiterleben zu können als ein anständiger Mensch, ein sehr deutsches Thema, wenn man es so sehen will, aber in der größeren Perspektive eigentlich eine sehr allgemeine.
Histo-Couch: Das sagen Sie ja auch treffend mit dem Satz „Alle haben das Recht, in ihrem Leben der Held zu sein.“ Das ist vielleicht ein ungewohnter Blick auf ein Leben, aber für Timo wohl prägend, zumal seine Geschichte am Ende in der Rückschau anders geschildert wird, als er es selbst getan hat. Ist das die Quintessenz des Romans?
Roy Jacobsen: Ich hasse es, das zu bemerken, aber hier ist der Übersetzung eine wichtige Nuance entgangen im Original heißt es „ …in ihrem eigenen Leben...“, Timo hat ja nicht das Recht, ein Held für andere zu sein, es geht um sein Selbstvertrauen im Laufe dieses schrecklichen Winters entdeckt er ja Charakterzüge, oder wenn Sie wollen: Eigenschaften in sich selbst, die er vorher nicht kannte, seine Empathie; plötzlich ist seine Welt größer geworden, er ist wichtig, bedeutet etwas für seine Umgebung, ja, er ist vielleicht ein guter Mensch, wenigstens nicht nur der Dorftrottel. Dieses neue und etwas reichere Selbstbild stößt dann natürlich gegen die alte Auffassung, die man im Dorfe vom ihm hat, und die natürlich mit dem Frieden wieder in Wirkung tritt. Man könnte das vielleicht ganz banal auslegen Timo hat entdeckt, dass das Beste in ihm im Krieg gefragt war, anscheinend nicht in dem Frieden, gleichzeitig hasst er den Krieg. Um mit diesem tragischen Paradox zurechtzukommen, braucht er 25 Jahre.
Histo-Couch: Nach dem Krieg wechseln Sie vom Ich-Erzähler Timo zu einem neutralen Erzähler. Geschieht das auch, um eine größere Distanz zur Vergangenheit zu erzeugen?
Roy Jacobsen: Ja, hier braucht Timo Hilfe „ohne ein bisschen Hilfe wären wir alle verloren,“ lautet ja seine einfache Devise. Er hat den 'kaputten’ Russen im Kriege geholfen. Ihm selbst wird jetzt nach dem Krieg mit etwas Verständnis geholfen, das Verständnis, das ihm fehlt im Dorfe jetzt kriegt er es vom Schriftsteller und vom Leser, das ist seine Absicht mit dem Erzählen. Die Außenperspektive soll also nicht nur einen blöden Metaroman aus der Geschichte machen, sondern ein moralisches Diktum andeuten, Timos Moral.
Histo-Couch: Ist Timo schlau? Man bekommt zu Anfang schon das Gefühl, er wäre ein wenig „zurückgeblieben“, da er sich dieser Situation aussetzt, obwohl er im Grunde nach und nach seinen Feind „weichkocht“.
Roy Jacobsen: Timos Trottel-Charakter/Einfachheit ist meiner Ansichten nach eine literarische Notwendigkeit; es geht darum, Kontraste bloß zu legen sogar ein Trottel ist nicht nur das, was wir in ihm sehen; das gilt für alle Menschen. Wir spielen Rollen, sind aber viel mehr als diese Rollen. Rollen können uns einerseits Geborgenheit verleihen, aber uns auch dramatisch begrenzen, im schlimmsten Falle in ein soziales Gefängnis einsperren, wie es der Fall mit Timo ist. Der Krieg gibt ihm absurderweise die Möglichkeit, aus diesem Gefängnis auszubrechen, sowohl zu seinem eigenen wie zum Erstaunen seiner Mitbürger.
Histo-Couch: Sind die russischen Offiziere, der Übersetzer oder sonst jemand in dem Buch tatsächlich historisch nachweisbare Personen? Wie ist es, wenn man historischen Personen fiktive Personen gegenüberstellt?
Roy Jacobsen: Hier muss man meiner Meinung nach vorsichtig vorgehen. Wenn historisch nachweisbare Personen in einer fiktiven Geschichte auftreten, lasse ich sie normalerweise nur das sagen und tun, was nachweisbar ist. Habe ich aus literarischen Gründen es nötig, eine historische Person „out of Charakter“ (oder besser: „out of the sources“) agieren zu lassen, versuche ich sie zu anonymisieren. In diesem Roman sind alle Daten, Kräfteverhältnisse und Rahmenbegebenheiten so gut wie möglich recherchiert. Auch ein paar finnische und russische Offiziere sind historische Personen und erscheinen unter ihren richtigen Namen, z.B. der kommandierende General, der nach dem Krieg von seinem Eigenen hingerichtet wird, nicht, weil er die Schlacht verloren hat, sondern weil er angeblich 53 Feldküchen verloren habe diese Schlacht ist ja noch immer eine Schande in der russischen Militärgeschichte. Der Dolmetscher ist aber anonymisiert, in einen fiktiven Charakter verwandelt, so wie auch der finnische Offizier, der Timo die Waffe wegnimmt und Jahre später so tut als sei nichts passiert er war verantwortlich für das Abbrennen des Dorfes. (Die Übrigen muss ich eigentlich Charakter für Charakter behandeln, aber ich hoffe, das Prinzip ist hiermit erleuchtet?)
Histo-Couch: Was ja letztlich erstaunt, ist, dass die Russen diesen Kriegszug im Prinzip völlig unvorbereitet gestartet haben, was sie ja auch dann in die Niederlage gestürzt hat. Waren die Finnen schlauer, oder waren, ganz profan gesagt, die Russen vielleicht einfach zu doof? Müssen wir Mitleid mit den russischen Soldaten haben, weil ihre Offiziere sich nicht ausreichend informiert hatten?
Roy Jacobsen: Die Russen waren sicherlich weder gut genug vorbereitet noch ausgerüstet. Und sie haben den Feind dramatisch unterschätzt die Finnen hatten z.B. keine Luftwaffe und hatten auch Probleme mit ihren sonstigen Waffenlieferungen Sie bekamen keine Hilfe von ihren Alliierten, nicht einmal Schweden und Norwegen haben wenn auch aus verschiedenen politischen Gründen Waffen liefern wollen. Aber die unmenschliche Kälte, die finnische Ausdauer Sisu -, der finnische Kampfgeist und taktische Überlegenheit haben nicht nur die Russen überrascht, sondern auch ihren eignen Oberbefehlshaber, den notorischen Mannerheim „Ich wusste dass meine Jungs gut waren, aber dass sie SO gut waren, davon habe ich nicht die geringsten Vorstellungen gehabt.“ Zudem hatte Stalin in den dreissiger Jahren das russische Offizierskorps durch seine paranoiden Prozesse dramatisch dezimiert, während das finnische ganz intakt war, dazu z. T. erstklassige Veteranen vom ersten Weltkrieg; man sagt sie waren beim Tannenberg „ausgebildet“ worden.
Histo-Couch: Können bzw. dürfen Sie uns etwas über Ihre nächsten Projekte verraten?
Roy Jacobsen: Mein nächstes Projekt heisst „Vidunderbarn“ (Wunderkind) und wird nächstes Jahr auf Deutsch erscheinen, wohl unter einen anderen Titel es ist eine ganz andere Geschichte, von einem tapferen Jungen, der seine merkwürdige Halbschwester vor ihr selbst und den Gefahren der Welt zu beschützen versucht und dadurch Erfahrungen macht, die sein Leben total ändern.
Histo-Couch: Vielen Dank für das Interview!
Roy Jacobsen: Und danke sehr für Ihr Interesse. Jetzt fahre ich nach Nord-Norwegen, muss weg von der Sommerhitze.
Og jeg avslutter på norsk og ønsker deg en riktig fin sommer og lykke til i VM („...und viel Glück in der Weltmeisterschaft!“)!
Das Interview führte Carsten Jaehner.
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