Dagmar Fohl
„Ich habe zu jeder Romangestalt eine besondere Beziehung“
09.2010 Die Histo-Couch im Interview mit Dagmar Fohl über Inseln, Quellenstudium und Schreibprozesse.
Histo-Couch: Frau Fohl, mit „Die Insel der Witwen“ haben Sie ein sehr ausgereiftes und vielschichtiges Werk vorgelegt, das sich von ihrem – bereits sehr starken – Erstling „Das Mädchen und sein Henker“ doch markant unterscheidet. Was ist zwischen diesen beiden Büchern passiert?
Dagmar Fohl: Nach Abschluss meines ersten Romanes keimte in mir der Wunsch auf, mich literarisch weiterzuentwickeln, die Intensität zu steigern, Situationen und Gefühle dichter zu gestalten. Ich begann den neuen Roman, ohne zu wissen, wohin mich das Schreiben führen würde. Ich schrieb „Stimmungssplitter“, die sich erst allmählich zu der Geschichte zusammenfügten, die ich in „Die Insel der Witwen“ erzähle. Das war ein sehr intensiver und auch sehr anstrengender Prozess mit einigen Turbulenzen. Zunächst stand nur die Thematik des Insellebens im 19. Jahrhundert fest. Über die Recherche kristallisierten sich die Schwerpunkte Seemannswitwen, Strandräuberei, Leuchtturmbau mit seinen Auswirkungen heraus. Auch das Schicksal der Figuren war nicht von vornherein geplant. Ich möchte sagen, sie gingen ihren eigenen Weg, ohne dass ich eingreifen konnte.
Histo-Couch: Nach und nach decken Sie die von aussen wahrgenommene psychische – und auch die physische – Entwicklung des Protagonisten auf. Dies auf eine höchst subtile Art, die vermuten lässt, dass Sie sich mit dieser Form von „Wahnsinn“ intensiv auseinander gesetzt haben …
Dagmar Fohl: Ich habe mich eingehend mit dem Thema „Wahnsinn“ und seinen Auswirkungen beschäftigt. Einblick in die Historie aus medizinsoziologischer Sicht erhielt ich durch das Standardwerk „Wahnsinn und Gesellschaft, Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft“ von Michel Foucault. Dann studierte ich viele Quellen, vornehmlich jene des 19. Jahrhunderts, in denen Kranke sich selbst äußern oder von Ärzten beschrieben werden. Auch von belletristischer Seite habe ich mich dem Thema genähert. Als Beispiel sei Edgar Allan Poe erwähnt.
Histo-Couch: Sowohl Keike Tedsen als auch Andreas Hartmann zeigen erschreckende Züge – es gibt im ganzen Roman kaum eine Figur, die nicht „über Leichen“ geht, um ihr Ziel zu erreichen. Es scheint, als wollten Sie bewusst keine „Helden“ schaffen?
Dagmar Fohl: Das war keine bewusste Entscheidung. Doch sind Helden für mich uninteressant, wenn ich nicht ihre Bruchstelle entdecke und sie herausarbeite. Romanhelden verkommen nicht selten zu aufgeblähten Figuren, die wenig mit einer vielschichtigen und damit lebensnahen Person zu tun haben. Grundsätzlich stellt sich für mich das Problem, wie ein „Held“ zu definieren ist. Mit dieser Fragestellung würde mein Interesse beginnen, etwas über „Helden“ zu schreiben.
Histo-Couch: Sie schlüpfen gedanklich gleich in mehrere Figuren und bringen diese mit ihren ganzen Eigenheiten den Lesern näher. Welcher Figur gehört Ihr Herz am ehesten, wen finden Sie die interessanteste Person?
Dagmar Fohl: Mein Herz gehört immer voll und ganz der Figur, an der ich gerade arbeite. Ich habe zu jeder Romangestalt eine besondere Beziehung. Ich erfinde eine Figur, die sich im Laufe des Schreibprozesses mehr und mehr von mir emanzipiert, ein Eigenleben führt. Plötzlich bestimmt die fiktive Person selbst, wie sie denkt und handelt. Es entwickelt sich ein Zwiegespräch zwischen der Romanfigur und mir. Dieser Dialog verläuft nicht ohne Auseinandersetzung. Es entstehen sehr intime Dispute. Vielleicht verstehen Sie jetzt, warum ich keine Wahl der interessantesten Romangestalt treffen kann. Ich liebe und schätze alle Figuren mit ihren guten wie bösen Eigenschaften. Jede erfundene Gestalt erfüllt in meinen Romanen ihre Funktion und sagt etwas aus über Leben und Denken, über Sehnsüchte und auch Abgründe des Menschen. Das ist zumindest mein Idealziel.
Histo-Couch: Wie schwer fiel es Ihnen, einerseits den beobachtenden Status und gleichzeitig den erlebenden Teil zu beschreiben – dies verlangt doch ein gleichzeitiges Empfinden auf zwei höchst verschiedenen Ebenen?
Dagmar Fohl: Die beiden Ebenen ergänzen sich und sind untrennbar. Die Distanz ermöglicht, die Figur von außen zu fokussieren, um schließlich in ihre Haut schlüpfen zu können, ihre Empfindungen wahrzunehmen und sprachlich umzusetzen. Das ist in der Tat ein schwieriges Unterfangen, da die Grenzen verschwimmen können. Aber kein Autor wird behaupten, das Schreiben sei reines Vergnügen. Schreiben ist harte Arbeit, insbesondere auf psychischer Ebene.
Histo-Couch: Was war es, das Sie an der Insel Taldsum und ihrer Geschichte so bewegte, dass sie sie ins Zentrum ihres zweiten Romans gerückt haben?
Dagmar Fohl: Taldsum ist eine fiktive Insel, in der ich die Geschichte verschiedener friesischer Inseln vereint habe. Es hat mich gereizt, ein Eiland, ein abgeschlossenes Terrain mit ausgeprägtem Eigenleben als Ort des Geschehens zu wählen, die dortigen Lebensbedingungen zu erforschen und ihnen nachzuspüren.
Histo-Couch: Sind Sie selber ein „Inselkind“ – oder haben Sie diese starken Bindungen zur eigentlich doch sehr unwirtlichen Insel bei Bewohnerinnen und Bewohnern selber erleben können?
Dagmar Fohl: Ich komme vom Festland, habe jedoch eine starke Affinität zu Inseln. Ich fahre mindestens einmal im Jahr auf eine Insel, auch um dort zu schreiben. Die Inselbewohner empfinden ihre Lebenswelt niemals als unwirtlich. Es ist ihre Heimat, in der sie im Einklang mit den Gegebenheiten leben, die ihnen ihre Insel bietet. Wie überall gelingt das dem einen besser als dem anderen. Ich selbst empfinde keine der Inseln, die ich in heutiger Zeit kennen gelernt habe, als unwirtlich, sondern als bezaubernd. Allerdings jenseits der Haupttourismussaison.
Histo-Couch: Sie vermischen die Empfindungen von Keike Tedsen stark mit mystischen Elementen. Wo ziehen Sie die Grenze zu Fantasy? Stammen die erzählten Mythen und Legenden aus den Überlieferungen von wahrhaftigen Inseln?
Dagmar Fohl: Die Grenzen sind fließend. Die mystischen Elemente gehören zur Geschichte des 19. Jahrhunderts, zum Denken und Fühlen der Menschen, auf dem Festland wie auch auf den Inseln. Viele der Mythen und Legenden, die in den Roman eingearbeitet sind, stammen aus den Überlieferungen der friesischen Inselwelt. Unter der Feder der Autorin hat sich manche Mär verändert. Ich habe, von den alten Texten inspiriert, auch eigene Märchen und Mythen ersonnen, was mir sehr viel Vergnügen bereitet und mir geholfen hat, Stimmungen und Gedanken der Inselbewohner nachzufühlen und zum Leben zu erwecken.
Histo-Couch: Bei beiden bisher erschienen Büchern haben Sie sich einem Thema gewidmet, das wohl bei vielen Lesern noch lange Nachhall findet. Doch sind es auch sehr düstere Themen. Werden Sie beim Schreiben nie von dieser düsteren Stimmung mitgerissen? Wie erholen Sie sich?
Dagmar Fohl: Ich werde in düstere wie auch in heitere Stimmungen gezogen. Das ist notwendig, um einer Geschichte Wahrhaftigkeit und Wirkungskraft zu verleihen. Die Phase der Distanz ist in diesem Zusammenhang sehr wichtig. Der professionelle Blick auf das Geschriebene zieht mich sofort aus der jeweiligen Stimmung heraus. Zudem hat fast jede Figur auch tröstende Erlebnisse und Lebensträume. Nach der Arbeit erhole ich mich durch Joggen, Gartenarbeit, Schwimmen, oder ich koche ein gutes Essen, gern auch für Freunde. In einer intensiven Schreibphase kommt die Erholung jedoch meist zu kurz. Die Gedanken überschlagen sich und es bleibt mir nichts anderes übrig, als durchzuhalten, bis sie zu Papier gebracht sind. Autorenschicksal!
Histo-Couch: Was brachte Sie dazu, zu schreiben? Ist Schriftstellerin ihr Traumberuf?
Dagmar Fohl: Ich habe viele Jahre einen extrovertierten Beruf ausgeübt und einen Großteil meiner Energie anderen Menschen geschenkt. Es war der Wunsch nach Ruhe und Sammlung, der mich zum Schreiben brachte. Ich schlage ein Zelt über mir auf. Das ist ein wunderbarer Zustand, so lange kein Telefon läutet, kein Postbote ein Paket bringt oder oder oder …
Traumberuf? Ich möchte mit einem Zitat von Anton Tschechow antworten:
„Der Weg des Schreibenden ist von Anfang bis Ende mit Dornen, Nägeln und Brennnesseln bestückt, weshalb der gesund denkende Mensch sich auf jede erdenkliche Weise von der Schriftstellerei fernhalten muss.“
Jeder Traum verliert an Wirkungskraft, wenn er sich in Realität verwandelt. Dennoch: Ich werde weiterschreiben. Es ist die intensivste und spannendste Arbeit, die ich je kennen gelernt habe und sie führt mich zu dem, was ich als „mein Leben“ bezeichnen kann.
Histo-Couch: Wann erkennen Sie, dass sie das Thema für Ihr neues Buch gefunden haben?
Dagmar Fohl: Ein starker Gedanke blitzt auf, der mich nicht mehr zur Ruhe kommen lässt und mich ständig begleitet. Ich weiß nun, womit ich die nächsten Jahre verbringen werde.
Histo-Couch: Wie gehen Sie damit um, wenn ein neues Buch von Ihnen erschienen ist? Warten Sie mit Herzklopfen auf Reaktionen oder haben Sie mit der Veröffentlichung dieses Thema abgeschlossen und wenden Sie sich etwas Neuem zu?
Dagmar Fohl: Das Thema eines Romans ist für mich abgeschlossen, sobald die endgültige Druckvorlage erstellt ist. Oh ja, ich erwarte die ersten Rezensionen und Meinungen zum neuen Roman voller Ungeduld. Die Wartezeit verkürze ich mir, indem ich mit den Recherchen für den nächsten Roman beginne.
Histo-Couch: Wie offen sind Sie für Kritik? Oder anders gesagt: Was löst Lob in Ihnen aus?
Dagmar Fohl: Ich bin sehr offen für fundierte Kritik, denn ich möchte mich weiterentwickeln. Dazu sind Kritik und auch Lob notwendig. Lob, insbesondere von fachkundigen Personen, löst in mir einen starken Motivationsschub aus.
Histo-Couch: Ihre bisherigen Romane lassen darauf hoffen, dass es aus der Feder von Dagmar Fohl noch einiges zu lesen geben wird. Ist ein nächstes Buch schon in Arbeit?
Dagmar Fohl: Der nächste Roman ist schon fertig gestellt und wird im Februar 2011 im Gmeiner – Verlag unter dem Titel „Der Duft von Bittermandel“ erscheinen. Er spielt im 16. Jahrhundert in Frankreich zur Zeit der Reformation und der deutsch-französischen Kriege. Der Oberküchenmeister des französischen Königs François I. erzählt sein schicksalhaftes Leben und Wirken am Hofe. Gleichzeitig steht die Lebens- und Gefühlswelt der Königin Claude im Fokus. Dieser Renaissance-Roman zeichnet ein genaues Panorama des Zeitalters mit seinen politischen und religiösen Wirren. Sprachlich knüpft er an den Erzählduktus der Literatur des 16. Jahrhunderts an, was ihn von den vorhergehenden Romanen unterscheidet. Auch habe ich versucht, die Figuren ihrer Zeit gemäß denken und handeln zu lassen. Helden werden allerdings auch in „Der Duft von Bittermandel“ nicht vorkommen. Aber mit einem Hofnarren kann ich dienen.
Bleibt die Frage nach dem folgenden Romanprojekt. Mein nächster Roman wird in Deutschland um 1919 spielen. Mehr soll vorerst nicht verraten werden. Auch dieser Roman wird sich wieder von den anderen unterscheiden. Die Klammer, die meine bisherigen Romane und Projekte verbindet, ist die Auseinandersetzung mit der Frage der Gewalt. Da ich in meinem ersten Beruf Historikerin bin, wähle ich historische Themen, denen es jedoch niemals an Aktualität mangelt. Leider.
Das Interview führte Rita Dell´Agnese.
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