Charlotte Lyne

„Ich bleibe gern ein anonymer Mensch.“

11.2010 Die Histo-Couch im Interview mit Charlotte Lyne über das Beschreiben vom Töten, Kritik und Franz Kafka.

Histo-Couch: Frau Lyne, mit „Glencoe“, ihrem vierten historischen Roman, entführen Sie Ihre Leserinnen und Leser nach Schottland. Was war es, das Sie auf die Schlacht bei Glencoe aufmerksam gemacht hat?

Charlotte Lyne: Zunächst einmal: Das Massaker von Glencoe ist keineswegs eine Schlacht, sondern ein Überfall auf größtenteils unbewaffnete, zu diesem Zeitpunkt arglose Zivilbevölkerung. Auch wenn das Vorhaben im Ergebnis letztlich gescheitert ist, handelt es sich in der Planung eindeutig um einen Genozid.
Das ist ein Thema, das mich – wohl bedingt durch die Nationalität, mit der ich geboren bin – nicht loslässt. Ich habe sehr lange darüber schreiben wollen, war mir aber zugleich sicher, der Aufgabe so, wie ich sie mir vorstellte, nicht gewachsen zu sein.
Auf die Geschichte des Massakers von Glencoe stieß ich vor gut zwanzig Jahren, weil mein Schwiegervater aus Glencoe stammte und Material zu dem Thema sammelte. Er fand, ich solle die Geschichte erzählen. Ich habe sie – sehr stolz – von ihm übernommen, habe noch mehr Material gesammelt, viele Male angefangen, häufig gezweifelt. Im Grunde überzeugt mich das Konzept – Abstand zwischen Autor und Thema schaffen, indem man das Thema an einem Ort und in einer Zeit aufgreift, die weit von einem weg sind. Und da die Geschichte nie aufhörte, mich sehr festzuhalten, habe ich sie eben irgendwann gebeten, es mit mir zu versuchen.

Histo-Couch: Sie schildern nicht einfach das Leben eines Clans und dessen Verlust durch den Krieg, sondern legen viel Gewicht auf die Protagonisten, die sich als kantige und sehr tiefgründige Persönlichkeiten präsentieren. Wo liegt Ihr persönlicher Schwerpunkt in diesem Roman?

Charlotte Lyne: Beim Töten. Ich wollte das gern wissen, solange ich denken kann: Was passiert in einem Menschen, damit er das tut – einen anderen töten? Was passiert in ihm, wenn er es tut? Was wird aus ihm, wenn er es getan hat? (Wenn ich das aufschreibe, höre ich immer Lady Macbeth mit ihrem „Heart so white“.) Ich glaube nicht daran, dass ich auf solche Fragen in diesem einen Leben eine umgrenzbare Antwort erhalten kann, aber ich kann mich, indem ich eine Geschichte aufsuche und versuche, sie weiterzuerzählen, an mögliche Ahnungen von Antworten herantasten. Vom Töten habe ich immer schreiben wollen, und Glencoe ist mein bisher konsequentester Versuch dazu. Ich wollte also keine Geschichte vom Krieg, sondern eine von Massenmord erzählen.
Von einem Massenmörder.
Von einem, der einen Befehl entgegennimmt und ihn befolgt, auch wenn der Befehl von ihm verlangt, in Scharen Artgenossen totzuschiessen, totzustechen, totzuschlagen.
Ich wollte mir gern die Gelegenheit verschaffen, diesen Mörder zu fragen: Du – warum hast du das gemacht, warum hast du das mit dir machen lassen, hat etwas in dir NEIN geschrien, und wenn ja – wie hast du es zum Schweigen gebracht?
Trotzdem möchte ich nicht, dass jemand denkt, „Glencoe“ sei ein Buch, in dem ununterbrochen und ausschließlich gemetzelt wird. Ich wollte, dass „Glencoe“ ein Roman voller Leben ist – vom Töten kann man ja gar nicht erzählen, wenn man vom Leben nicht erzählt. Ich habe „Glencoe“ im Untertitel immer „Lied vom Lieben und Sterben“ genannt. Das ist ein bisschen arg kitschig für einen Titel (und darüber, dass der Verlag sich für „Glencoe“ entschieden hat, bin ich selig, besser geht es nicht), aber es war während des Schreibens mein Wegweiser.

Histo-Couch: Vier Romane, vier verschiedene Schauplätze – Hat es Sie nie gereizt, den Faden eines der bisherigen Romane aufzunehmen und die Geschichte weiter zu entwickeln?

Charlotte Lyne: Nein, nie. Ich lese keine Fortsetzungen (Ausnahmen bestätigen die Regel), und ich will niemals eine schreiben. Wenn ich plane, eine Geschichte zu erzählen, möchte ich es ganz und rund tun, von Anfang bis Ende, und anschließend braucht die Geschichte mich nicht mehr. Sie braucht dann nur noch die Leser.
Ich würde sehr gern noch einmal eine Geschichte aus der Tudor-Zeit erzählen, weil ich zu dieser Epoche viel arbeite und dabei immer wieder auf Geschichten stoße. Ich würde auch gern noch eine Geschichte erzählen, die in Portsmouth spielt, weil es auf der Welt meine Lieblingsstadt ist und weil es als Garnisonsstadt am Solent vor Geschichten birst. Aber das wären dann zwei neue Geschichten, keine Brüder meiner alten. Die haben sich von mir längst getrennt.

Histo-Couch: Ihren Romanen gemein ist eine gewisse Melancholie der Protagonisten, ohne dass diese aber den Kampf ums Überleben wirklich aufgeben. Erleben Sie die Menschen so?

Charlotte Lyne: Nein, überhaupt nicht. Ich erlebe auch die Figuren meiner Romane nicht so. Mich fesseln Chuzpe, Humor und Lebenswille, Bauernschläue, Zähigkeit, Lachen unter Tränen, die Entschlossenheit, sich dem Leben als Ganzes zu stellen, ohne das, was wehtut, herausschneiden – eine Neigung, die meiner Ansicht nach ohnehin dem 21. Jahrhundert viel eher innewohnt als beispielsweise dem 14. Das Leben lieben, heißt für mich auch, den Moment zu fürchten, in dem wir es wieder hergeben und von der tollen Idee, die wir waren, Abschied nehmen müssen. Meine Romane erzählen von Umbruchzeiten, von Krieg, von Verlust – und von Menschen, die damit fertigzuwerden haben. Fertigwerden kann für mich nie heißen: Wieder glatt werden, wieder wie vorher werden, sondern immer nur: Das Leben annehmen. Sich von ihm noch einmal umarmen lassen.
Ich mag keine Geschichten von Figuren, die man gemeinhin als „Helden“ bezeichnen würde. Aber ich empfinde die meisten meiner Figuren als erfüllt von Lebenskraft und Lebensfreude.

Histo-Couch: Was heisst es für Sie, zu schreiben?

Charlotte Lyne: ...Das weiß ich nicht. Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Ich hab’s immer gemacht, dazu hat sich nie eine Frage gestellt.

Histo-Couch: Sie haben neben dem Schreiben noch viele andere auch berufliche Aufgaben. Wie lassen sich all diese Anforderungen unter einen Hut bringen, so dass genügend Zeit zum Schreiben bleibt?

Charlotte Lyne: Da ich der Haupternährer meiner Familie bin und mich außerdem starrsinnig weigere, von der Zeit, in der meine Kinder mich brauchen, etwas abzuziehen, habe ich bereits vor mehr als zwanzig Jahren, nach der Geburt meines ersten Kindes, das Schreiben in die Zeit zwischen 4 und 8 Uhr morgens verlegt. Das passt mir gut, da ich ein ausgesprochener Morgenmensch bin. Mit vier Stunden pro Tag komme ich gut aus – die vier Stunden muss ich allerdings jeden Tag haben, also auch an Tante Hildes Geburtstag, an Weihnachten und bei milden Infekten (zu stärkeren neige ich Gott sei Dank nicht, habe ohnehin eine Pferdegesundheit, schlafe extrem ökonomisch, d.h. wie der berühmte Stein und komme daher problemlos mit kurzen Nächten zurecht).

Histo-Couch: Wann ist für Sie ein Roman „erwachsen“, so dass Sie ihn aus Ihrer Obhut entlassen können?

Charlotte Lyne: Wenn es nach mir geht – gar nicht. Ich könnte einen Überarbeitungsgang nach dem anderen durchnudeln und wäre immer noch der Meinung, ich hätte gerade erst angefangen, die ärgsten Haken abzuschleifen. Zum Glück gibt es Abgabetermine. Bei einem Roman musste eine nette Lektorin auch mal sehr drängen, weil ich mich nicht lösen, den Text einfach nicht für „fertig“ erklären konnte. Wenn er mir später – als lektorierte Version, als Druckfahne – wiederbegegnet, erschrecke ich oft darüber, wie wenig „fertig“ er ist, wie viel man noch daran hätte tun können. Und dann kommen die Leser und finden wieder anderes.
Allmählich (sehr langsam) lerne ich aber, zu akzeptieren, dass ich keinen Text von mir als „fertig“ empfinden kann, dass Text Rohmaterial bleibt, das sich endlos bearbeiten lässt, und dass ich schlicht den Schlussstrich ziehen muss, den meine zeitlichen Möglichkeiten mir setzen.

Histo-Couch: Ein Buch aus den Händen zu geben, es öffentlich zu machen, heisst auch, ein Stück von sich selber preis zu geben und sich der Kritik der Leserinnen und Leser zu stellen. Ist das für Sie ein schwieriges Kapitel?

Charlotte Lyne: Das Gefühl, mit dem Buch ein Stück von mir selbst preiszugeben, habe ich nicht. Oder nicht mehr, als wenn ich eine Übersetzung fertigstelle. Es ist meine Arbeit, das Ergebnis meiner Hirnwindungen, aber es ist ja kein geartetes autobiographisches Buch. Viele Kollegen bezeichnen ihre Bücher als ihre Babys – der Vergleich ist mir fremd. Es ist mein Buch, und es ist angreifbar. Damit, dass es vielen Menschen nicht gefällt, muss ich leben, ob mir das leicht fällt oder schwer. Manche Kritik – die, bei der man sich vor die Stirn klatscht und denkt: Wieso hab ich Otto das eigentlich nicht selbst bemerkt? – ist unendlich hilfreich. Andere ist lähmend – die, bei der ich weiß, dass sie berechtigt ist, zugleich aber auch, dass ich in den angesprochenen Punkten an meine Grenzen bereits gestoßen bin.
Kritik, die nicht mein Buch meint, sondern mich, erlaube ich mir, zu ignorieren. Mich kritisieren dürfen die, die mich kennen und mit mir umgehen.

Histo-Couch: Sie haben sich mit Ihren bisherigen Büchern eine eigentliche „Fangemeinde“ geschaffen, die an Sie auch irgendwie Ansprüche stellt und Erwartungen hat. Wünscht man sich da nicht manchmal, wieder in der Anonymität verschwinden zu können?

Charlotte Lyne: Für eine Fangemeinde bin ich zu wenig bekannt. Außerdem wohne ich weit weg „vom Schuss“, für mich stellt sich das Problem also nicht so krass wie für manche Kollegen. Ich rede gern über Bücher. Und ich finde es hochinteressant und aufschlussreich, zuzuhören, wenn Menschen über meine Bücher reden (das ist auch sehr motivierend. Ich finde Kritik viel leichter erträglich als Schweigen im Walde).
Als Mensch hinter dem Buch bliebe ich ganz gern anonymer, das stimmt. Mir hat neulich mal eine Freundin erklärt, dass Leser oft gern wissen wollen: Wie viel Autor steckt im Buch? Das hat mich an meine Studienzeit erinnert – ich wollte gern meine Magisterarbeit über Kafkas „Amerika“ schreiben und hatte mich bereits monatelang durch biographische Ansätze gewühlt, als ich auf einmal feststellte, dass ich mich zu all diesem „Wissen“ – oder diesen Schlüssen, diesem vermeintlichen Wissen – gar nicht berechtigt fühlte. Ich hatte ein Romanfragment in der Hand, das ich großartig fand (und immer noch finde), das reich genug ist, um mich auf Jahre hinaus zu beschäftigen. Darin steckt aller Kafka, den Kafka mich sehen lassen wollte (wobei im Fall des armen Kafka ja noch nicht einmal das stimmt) – weshalb griff ich also nach den Dingen, die ihm allein gehörten? Ich wollte an der Stelle gern zurück zur Arbeit am Text – nicht am Autor. Und das geht mir heute noch so, auch wenn ich damit keineswegs gesagt habe, dass mich die Biographien von Menschen, deren Werk mir wichtig ist, nicht interessieren.
Ich hoffe, ich habe nicht den Eindruck erweckt, ich wolle mich mit Kafka vergleichen.
Stattdessen wollte ich erklären, wie es mir geht: „Wie viel Autor steckt im Buch?“, ist keine Frage, die ich mir stelle, also möchte ich sie auch nicht beantworten. Es macht mir großen Spaß, Fragen zu meinen Büchern zu beantworten, zum historischen Hintergrund, zu den Teilen, die keinen Platz mehr im Buch gefunden haben, zur Recherche, zu allem. Fragen zu mir zu beantworten (einschließlich „wie sind Sie zum Schreiben gekommen?“), macht mir überhaupt keinen Spaß. Ich möchte gern so anonym sein wie mein Bäcker oder mein Gynäkologe. Den ich ja auch nicht frage, wie viel von ihm im Roggenbrot oder im Einsatz eines Intrauterinpessars steckt.

Histo-Couch: Gibt es ein Buch, das Sie tief berührt hat und das Ihr weiteres Leben prägte? Wenn ja, welches?

Charlotte Lyne: Ganz viele. Und immer wieder neue. Die, die sich am längsten halten, ohne in der Wirkung nachzulassen, sind Steinbecks „Früchte des Zorns“, Aitmatows „Dshamilja“, Hemingways „Wem die Stunde schlägt“ und Dostojewskijs „Verbrechen und Strafe“ – wobei ich die Frage jetzt nur für Romane und Novellen beantwortet habe, denn alles andere würde zu weit führen.
Irgendwo habe ich vor sehr vielen Jahren mal gelesen, ein Roman solle dem Menschen unter vierzig helfen, leben zu lernen, und dem über vierzig helfen, sterben zu lernen. Ich kann damit heute noch viel anfangen. Für mich ist es so.

Histo-Couch: Was bedeuten Ihnen Bücher?

Charlotte Lyne: Siehe oben. Da ich mich an eine Zeit ohne Bücher nicht erinnern kann, stelle ich mir auch diese Frage nicht.
In unserer Familie war und ist es immer so: Wenn uns in irgendeiner Lebenslage ein Thema streift – Pubertätspickel, Evolution der Drosophila-Fruchtfliege, Verstopfung des Toilettenrohrs, Verwaltung von Stauferkastellen in Sizilien, Urlaub auf Santorini, Ehekrach, laktosefreie Ernährung etc. – kaufen wir erst mal ein Buch. Ich fürchte, wir sind Leute, die sich ohne Buch wie Blinde durch die Gegend tasten. Nur dass uns der ausgeprägte Tastsinn eines Blinden fehlt.

Histo-Couch: „Glencoe“ ist auf dem Markt, nun fragen sich die Leserinnen und Leser, womit Charlotte Lyne sie als nächstes überraschen wird. Gibt es schon ein konkretes Projekt?

Charlotte Lyne: Mein nächster historischer Roman erscheint im Herbst 2012. Recherche und Planung sind komplett – jetzt muss ich die Geschichte also „nur noch“ erzählen.

Das Interview führte Rita Dell’Agnese.

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