Henning Mützlitz
„Was ich selber nicht lesen möchte, findet sich nicht in meinen Büchern wieder“
01.2016 Die Histo-Couch im Interview mit Henning Mützlitz über die Hanse, Seefahrten und Recherchen an der Ostsee.
Histo-Couch: Herr Mützlitz, Sie sind im Taunus geboren, in Nordhessen aufgewachsen, und dennoch spielt ihr erster historischer Roman an der Ostsee. Warum nicht in der Heimat?
Henning Mützlitz: Ehrlich gesagt habe ich noch nie darüber nachgedacht, einen Roman in meiner Heimat anzusiedeln, weder in Nord- noch in Südhessen. Sicherlich gäbe es auch dort viele Geschichten zu erzählen, aber mich reizen andere historische Schauplätze mehr.
Histo-Couch: Wie sind sie auf die Idee zu der Geschichte gekommen?
Henning Mützlitz: Bei der Überlegung, einen historischen Roman zu schreiben, bin ich recht schnell auf die Epoche der Hanse gekommen. Diese Zeit hat mich schon immer interessiert, und ich wollte auf der großen Spielwiese, die Nordeuropa in jener Zeit bietet, gerne mehrere Aspekte abdecken. Mir schwebte von Anfang an vor, einen Gescheiterten in den Mittelpunkt der Handlung zu stellen, der nicht mit den Ratsherren und Patriziern speist, sondern am Abgrund seiner Existenz wandelt und mit der Härte der Gosse konfrontiert wird. Ebenso wollte ich gerne eine Abenteuerhandlung integrieren. Die beiden Hauptfiguren dieser Handlungsstränge traten ebenfalls recht schnell auf den Plan, und dann fügte sich das Ganze recht schnell zusammen.
Histo-Couch: Woher kommt Ihr Interesse für die Hanse?
Henning Mützlitz: Mein ursprüngliches Interesse für die Zeit der Hanse wurde 1992 geweckt. Damals erschien eine Wirtschaftssimulation für die gängigen Heimcomputer (in meinem Fall ein Atari ST) mit dem Namen „Der Patrizier“. Damals gab es ja noch umfangreiche Handbücher zu den Spielen, und in eben jenem befand sich auch ein recht umfangreiches Kapitel zum Handel und Wandel der Hansestädte und -kaufleute im 14. Jahrhundert. Daraufhin habe ich mir weitere Bücher zum Thema zugelegt, für die ich allerdings damals zum Teil noch zu jung war, die mir aber bei der Recherche zu „Im Schatten der Hanse“ wieder von Nutzen waren. Als die Überlegung aufkam, neben der Phantastik auch einmal einen Historischen Roman zu schreiben, musste ich nicht lange überlegen, wann und wo dieser angesiedelt sein sollte.
Histo-Couch: Ihre Hauptfigur Jacob Wallersen erbt ein Handelskontor und ist damit zu Beginn völlig überfordert und bekommt wenig Hilfe. Sie gehen wirklich hart mit ihrem Protagonisten um. Gibt es für die Geschichte und die Figuren historische Vorbilder?
Henning Mützlitz: Für die Figur des Jacob Wallersen habe ich mich an keinen konkreten historischen Vorbildern orientiert. Die Grundüberlegung war: Wie ergeht es einem Fernkaufmann der Mittelschicht, der „oben anklopft“, also in die Riege der Ratsherren aufsteigen möchte, daran aber scheitert? Welche Risiken muss er eingehen? Welche Gefahren drohen ihm, wenn es schiefgeht? Dass die hohen Herren einer Hansestadt mit harten Bandagen kämpfen, sollte ja bekannt sein. Ich fand es in diesem Zusammenhang aber eher spannend, was geschehen könnte, wenn ein Kaufmann von denjenigen Kreisen bedrängt wird, mit denen man sich als ehrbarer Bürger im Zuge des gesellschaftlichen Aufstiegs eigentlich nicht einlassen sollte: Die vermeintlich gottlosen Protagonisten der „Unterwelt“. Zu Jacobs Unglück tritt er ein Erbe an, dass nun von eben dieser Welt bedrängt wird. Ebenso, wie Jacob damit konfrontiert wird, soll den Lesern vor Augen geführt werden, dass es hier noch einmal deutlich anders zugeht als in der Oberschicht.
Histo-Couch: In einem zweiten Erzählstrang gerät das Mädchen Svanja unter Seepiraten. War ihnen von vornherein klar, wie sie die beiden Handlungsstränge miteinander verbinden würden?
Henning Mützlitz: Die Verbindung der Handlungsstränge war von Anfang an so vorgesehen. Im Laufe des Schreibprozesses haben sich natürlich noch Veränderungen im Detail ergeben, aber grundlegend folgt die Handlung dem ursprünglichen Konzept. Während des Lesens lässt sich sicher bereits erahnen, dass es einen Zusammenhang zwischen beiden geben wird, die Auflösung sollte aber dennoch überraschend kommen, denke ich.
Histo-Couch: Sind Seefahrten, wie Jacob sie selbst zur Finanzierung seines Geschäfts selbst mit unternehmen musste, historisch verbürgt?
Henning Mützlitz: Ja, diese Art von Fahrten sind historisch verbürgt. Es gibt beispielsweise einen großen Nachlass des Händlers Hildebrand Veckinchusen, der ab 1390 ein Handelshaus aufbaute, das von Lübeck bis zum Baltikum operierte. Von ihm sind ein knappes Dutzend Rechnungsbücher sowie rund 550 Briefe erhalten, durch die sich gut nachvollziehen lässt, wie die Tätigkeiten der Hansekaufleute aussahen und über welch reiches Beziehungsgeflecht sie verfügten. Man darf dabei nicht vergessen, dass die hansischen Handelsbeziehungen im Prinzip den ganzen nordeuropäischen Raum umspannten – nicht nur für das Spätmittelalter eine überaus beeindruckende Leistung. Die Hansekaufleute hatten unter Federführung Lübecks Kontore mit entsprechenden Handelsprivilegien in Brügge, London, Bergen und Novgorod errichtet und kontrollierten den Ost-West-Handel gleichsam einer Spinne im Netz. In den Frühzeiten der Hanse fuhren die Fernhändler noch selbst auf den Schiffen mit, später kontrollierten sie den Handel von ihrem Kontor aus, und beteiligten ihre Kapitäne am Ertrag der Fahrten, die damit nicht nur Schiffsführer, sondern Subunternehmer waren. Währenddessen konnte man sich in der Heimatstadt der Mehrung von Macht und Einfluss widmen oder Betriebe errichten, um die ankommenden Waren weiterzuverarbeiten oder zu veredeln. Dabei sind tatsächlich regelrechte internationale Produktionsketten entstanden, die vom Grundprinzip durchaus mit der heutigen globalen Warenwirtschaft verglichen werden können.
Dennoch waren die Unterschiede derjenigen, die man heute unter der Bezeichnung „Hansekaufmann“ zusammenfasst, sehr groß. Vom kleinen Händler, der nur einige Parten, also einen Anteil, an einer Kogge besaß und einzelne Waren von A nach B transportieren ließ, bis hin zu Patriziern, die über ein regelrechtes Handels- und Produktionsimperium verfügten, waren dabei alle Nuancen zu finden.
Histo-Couch: Wie steht es um Ihre eigenen Seefahrer-Kenntnisse?
Henning Mützlitz: Diese sind erst im Zuge der Recherche für den Roman entstanden und beschränken sich auf das Theoretische. Ich habe mich dabei natürlich vor allem mit den Eigenschaften der verwendeten Schiffstypen befasst, zuvörderst der Kogge, die ja als Symbol der Hansezeit gilt und sich ja auch in den Wappen viele Hansestädte wiederfindet. Die Seefahrt im späten 13. Jahrhundert war (zumindest im nordeuropäischen Raum) nicht sonderlich fortschrittlich. Neben den Beschränkungen, was die Steuer- und Manövrierfähigkeit der Koggen anbelangte, war auch die Navigation nicht besonders weit entwickelt. Araber und Chinesen waren zu dieser Zeit wesentlich weiter. Man orientierte sich auf der Ostsee im Wesentlichen noch mittels Seebüchern und Landmarken. Auch die Geschwindigkeit und Wehrhaftigkeit der Handelssegler nahm erst im 15. Jahrhundert mit der Verbreitung des Holks und späteren Formen der Kogge zu. Im Roman habe ich versucht, die Schwierigkeiten, mit denen die Handelsfahrer zu dieser Zeit ausgesetzt waren, zu schildern – wenngleich das „Piratenproblem auf Gotland“, mit dem auch die Protagonisten konfrontiert sind, sich erst in den Jahrzehnten danach zu einer regelrechten Plage entwickelte.
Histo-Couch: Warum benutzen Sie in den Überschriften die alten Monatsnamen?
Henning Mützlitz: Bislang habe ich die Kapitel in meinen Romanen schlicht mit der jeweiligen Nummer bezeichnet, beim aktuellen Roman wollte ich das Ganze anders angehen. Da ich mit mehreren Protagonisten und deren Sichtweise auf die Dinge durch die Handlung führe, war es mir wichtig, bereits in den Kapitelbezeichnungen deutlich zu machen, auf wen die Leser jeweils treffen. Da die Handlungsstränge an verschiedenen Orten spielen, ist es vor allem zu Beginn hilfreich, diese anzugeben. In diesem Zusammenhang bot sich an, auch auf das jeweilige Datum zu verweisen, um die Handlungsstränge miteinander in Bezug setzen zu können. Diese sollten dann natürlich nicht die heutigen Bezeichnungen tragen, sondern durch die alten Namen die Atmosphäre des Romans vertiefen.
Histo-Couch: Wieviel Zeit haben Sie bei der Recherche an der Ostsee verbracht? Waren Sie auch in Schweden?
Henning Mützlitz: Die konkrete Recherche in Lübeck hat im Vorgriff auf den Roman nur wenige Tage betragen. Ich bin allerdings seit 2008 fast jährlich dort und im Umland gewesen, musste also nicht noch einmal speziell dorthin fahren, um mir die Schauplätze vor Augen zu führen. In Reval und Schweden bin ich dagegen nicht gewesen, zum Glück bietet aber die moderne Technik z.B. mit Google StreetView die Möglichkeit, beispielsweise am Bildschirm durch die Altstadt von Tallinn/Reval zu laufen. Den Weg, den das Waisenmädchen Svanja dort zu Beginn zurücklegt, habe ich also virtuell absolviert – und die Adaption des Gesehenen in das 14. Jahrhundert muss dann ja ohnehin in meinem Kopf stattfinden.
Histo-Couch: Wären Sie zu dieser Zeit gerne mal auf einer Kogge mitgefahren und hätten so eine Handelsfahrt mitgemacht?
Henning Mützlitz: Als „Abenteuerreise“ wäre so eine Fahrt sicherlich einmal nett gewesen. Die im Roman beschriebenen Orte oder andere Städte wie Danzig, Visby oder Brügge in dieser Zeit einmal erleben zu können, wäre natürlich sehr reizvoll. Als Handelsreisender oder Emissär eines Handelshauses, der in einer zumindest vor Wind und Wetter geschützten Kammer auf den späteren Koggen reisen konnte, wäre es sicherlich noch erträglich gewesen, als Seemann hätte ich diese Reise aber lieber nicht absolvieren wollen. Das Leben an Bord war (wie zu den meisten Zeiten) kein Zuckerschlecken, geprägt von Arbeit, Krankheiten, mitunter Hunger und tödlichen Gefahren.
Histo-Couch: Gibt es eine Figur im Roman, in der wir Eigenschaften von Henning Mützlitz entdecken können?
Henning Mützlitz: Sicherlich stecken in manchen Figuren auch Charakterzüge oder Eigenheiten des Autors. Im aktuellen Roman hält sich das aber deutlich in Grenzen. Mit der Hauptfigur Jacob Wallersen hatte ich immer wieder zu kämpfen, weil er sich oft überhaupt nicht so verhalten hat, wie dies aus meiner Sicht „vernünftig“ gewesen wäre. Aus seiner Biographie heraus musste ich ihm allerdings bei seinen fragwürdigen Entscheidungen zur Seite stehen, egal, wie sehr er mich genervt hat. Die Waise Svanja hingegen steht mir persönlich näher, sie wurde fast so etwas wie eine kleine Schwester für mich. Zudem habe ich sowohl mit ihrem Nachnamen Kristofson, als auch mit ihrer Lebensgeschichte (Flucht aus dem heute in Litauen gelegenen Semgallen) Hintergründe aus der Geschichte meiner Familie aufgenommen: Der Gutshof Weißgutsch (lit. Vaizguciai), von dem Svanja geflohen ist, musste 1945 von meiner Familie mütterlicherseits verlassen werden. Die Kriegs- und Fluchtgeschichte des 20. Jahrhunderts findet sich also hier in etwas anderer Form im 14. Jahrhundert wieder, wenngleich die Figur des Waisenmädchens komplett fiktiv ist.
Histo-Couch: Wie sieht ein Arbeitstag im Hause Mützlitz aus?
Henning Mützlitz: Ich arbeite als freiberuflich tätiger Journalist und Schriftsteller im Home Office, was sich jedoch nicht sonderlich von einem Arbeitstag eines Festangestellten unterscheidet: Wenn unsere Tochter in den Kindergarten gebracht wurde, geht der Arbeitstag gegen 8 Uhr los. Der Vormittag besteht meistens aus Korrespondenz sowie der Planung oder dem Verfassen von redaktionellen Beiträgen für verschiedene Zeitschriften. An Exposés und Romanen arbeite ich dann nachmittags, in letzter Zeit gerne auch im Café, da ich mich dort besser auf den Text konzentrieren kann. Naht ein Abgabe- oder Drucktermin, kann es auch vorkommen, dass ich bis in die Nacht am Schreibtisch sitze. Dies geschieht aber meistens nur, wenn sich größere Projekte wie z.B. ein Roman und eine Katalogproduktion überschneiden.
Histo-Couch: Wo liegen die Unterschiede beim Schreiben von Fantasy-Romanen und von Historischen?
Henning Mützlitz: Die Unterschiede sind gar nicht so groß, wie man vermuten könnte. In der High Fantasy, in der ich bislang hauptsächlich veröffentlicht habe, bestehen viele Reiche oder Weltentwürfe ja aus Settings, die an verschiedene Kulturen im Mittelalter oder der Frühen Neuzeit angelehnt sind. Dort müssen ebenfalls konsistente Systeme zu Herrschaft, Religion, Wirtschaft oder sozialem Gefüge entwickelt werden, um glaubhaft zu wirken. Allerdings bin ich dabei flexibler in der Gestaltung. Wenn eine Kultur z.B. bereits über den Buchdruck verfügen soll, kann ich das einfach festlegen – allerdings sollte man so etwas nur dann tun, wenn es aus ihr selbst heraus Sinn macht und begründbar ist. Zudem verschafft mir das phantastische Element weitere Möglichkeiten, die ich im Historischen Roman nicht besitze. Dieses kann aber ebenfalls sehr unterschiedlich ausfallen. In „Wächter der letzten Pforte“, meinem letzten Fantasy-Roman, werden diese Elemente beispielsweise eher moderat eingesetzt. Durch den Verzicht auf zu viel Magie, Exotik, nichtmenschliche Völker u.ä. liegt man also in seinem fiktiven Setting gar nicht mehr so weit entfernt vom Historischen Roman. Dort bewegt man sich aber natürlich insgesamt in einem wesentlich engeren Korsett, in dem man als Autor wenige Freiheiten zur Ausgestaltung der Schauplätze besitzt. Anstatt diese selbst zu entwickeln, bedeutet es dementsprechend mehr Recherchearbeit, denn Orte wie Lübeck und Reval sollen ja möglichst so dargestellt werden, wie sie sich im 14. Jahrhundert präsentiert haben. Wie tief man allerdings in die Materie hineingeht, wie sehr man versucht, sämtliche Determinanten des jeweiligen historischen Umfelds zu berücksichtigen, ist von Autor zu Autor sehr unterschiedlich. Mein Fokus liegt dabei immer eher auf den Figuren und der Geschichte – ich möchte als Leser beispielsweise nicht seitenlang über zeitgenössische Alltagsgegenstände und deren Fertigung lesen, also findet sich so etwas auch nicht in „Im Schatten der Hanse“.
Histo-Couch: Wird es weitere historische Romane von Ihnen geben? Was steht als nächstes an?
Henning Mützlitz: Ich möchte, zumindest in der näheren Zukunft, gerne zweigleisig fahren. Zum einen wird es eine Fortsetzung von „Im Schatten der Hanse“ bei Emons geben, die lose Fäden aufnimmt, daneben vor allem eine neue, unabhängig vom ersten Band zu lesende Krimi-Handlung enthält. Dieser Roman erscheint voraussichtlich im Oktober 2016. Ab Frühjahr erscheinen (zunächst als Ebook, im Herbst dann auch gedruckte) Novellen und Kurzgeschichten in der Welt der „Wächter der letzten Pforte“, die von mir und verschiedenen Autoren verfasst werden. Diese gestalten die von mir und meinem Mitautor Christian Kopp in dem Roman etablierte Fantasy-Welt weiter aus und füllen sie weiter mit Leben. Zudem gibt es natürlich eine ganze Menge Konzepte und Ideen für weitere Romane, davon ist aber noch nichts spruchreif.
Das Interview führte Carsten Jaehner.
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