Titus Müller
„Wem es weh getan hat, der muss eine Romanfigur werden“
04.2017 Die Histo-Couch im Interview mit Titus Müller über den 17. Juni 1953, sein Leben in der DDR und eigene Flopps.
Histo-Couch: Ihre historischen Romane spielen alle in unterschiedlichen Epochen – vom Mittelalter bis in die jüngere Vergangenheit. Was muss ein Thema haben, damit es Sie fesselt, so dass Sie darüber schreiben wollen?
Titus Müller: Meistens ist es etwas, das mich auch biographisch berührt. Bei „Der Tag X“ zum Beispiel war’s, dass ich als Pastorensohn selbst Ärger in der Schule hatte, weil ich nicht in der Pionierorganisation war. Ich habe Schulgerichte miterlebt wie zu Beginn des Romans und erinnere mich an das beklemmende Gefühl. Deshalb hat mich das Thema gepackt. Ich kann mich darin wiederfinden, mich einfühlen. Ein anderer Grund, ein Romanthema anzugehen, ist, wenn es mich neugierig macht, ich begegne dem Thema irgendwo und denke, jetzt will ich wissen, was da wirklich passiert ist und warum.
Histo-Couch: Wie gehen Sie generell beim Schreiben vor? Wie entwickeln Sie die Geschichte, die Figuren, den Plot? Wie greift das in Ihrem Schreibprozess alles ineinander?
Titus Müller: Sobald ich weiß, über welches Ereignis ich schreiben will, schaue ich, wem es weh getan hat, wer darunter leiden musste. Der muss dann eine Romanfigur werden. Die zweite Frage lautet: Wer saß an den Schalthebeln der Macht, wer hat eigentlich die Entscheidungen getroffen damals? Deshalb müssen beim „Tag X“ Adenauer, Churchill, Stalin und Beria vorkommen. Aber natürlich auch die Reinemachfrau in Halle, die damals tatsächlich den Aufstand losgetreten hat.
Histo-Couch: Wie sind Sie bei der Recherche für „Der Tag X“ konkret vorgegangen?
Titus Müller: Ich habe zum Beispiel im Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt in Merseburg die alten Polizeiakten von 1953 gelesen, in denen man sieht, wie damals mit den Aufständischen und den vermeintlichen Rädelsführern umgegangen worden ist. Da war ein Fall dabei, der mich tief berührt hat: Ein Mann wurde vor dem Gefängnis „Roter Ochse“ in Halle von einem Querschläger getroffen und getötet. Alle anderen, die vor dem „Roten Ochsen“ erschossen wurden, hat man still und leise frühmorgens begraben, doch bei diesem jungen Mann hat man sich entschieden, eine große Sache daraus zu machen. Es wurden 4 500 Leute zusammengekarrt, in ganz Halle stand der Verkehr still, eine Blaskapelle ging vorneweg, und die arme Witwe musste neben dem Sarg hergehen und wusste, ihr Mann war gar nicht gegen die Aufständischen gewesen, aber die DDR stellte es so dar, als ob er sich denen entgegengeworfen hätte und dabei erschossen worden sei. Und die Witwe musste schweigen bis 1990, man hat Druck auf sie ausgeübt.
Natürlich habe ich daraufhin das Gefängnis in Halle besucht. Und ich habe Zeitzeugen befragt, und einen Spionageexperten in Peine zu Rate gezogen, der Objekte sammelt, die von den Geheimdienstleuten damals tatsächlich eingesetzt wurden.
Histo-Couch: Wie lange hat es von dem Augenblick an, als Sie wussten, darüber möchten Sie schreiben, gedauert, bis das Buch erschienen ist?
Titus Müller: Ein paar Jahre auf jeden Fall, aber ich weiß nicht mehr genau, ab wann ich wusste, dass ich darüber schreiben möchte. Von dem Beginn der Recherche dauerte es dann anderthalb Jahre, bis das Manuskript fertiggestellt ist. Das ist die Zeit, die ich für einen Roman brauche. Erst recherchiere ich ungefähr ein Vierteljahr und dann fange ich an zu schreiben. Beim Schreiben finde ich natürlich immer wieder Fragen, für die ich irgendwohin fahren muss, um etwas herauszufinden, so dass die Recherche insgesamt am Ende sicher ein halbes Jahr oder ein Dreivierteljahr ausmacht.
Histo-Couch: Ist es eigentlich schwieriger, einen Roman in der jüngeren Vergangenheit zu schreiben, wenn es sein kann, dass einem danach noch Zeitzeugen über den Weg laufen, die sagen: „Hey, das war aber ganz anders, ich war dabei“, oder bei dem die Quellenlage noch nicht 100 mal durchleuchtet wurde, bei dem man es noch nicht mit soviel Abstand sehen kann?
Titus Müller: Das Verrückte ist, obwohl es viel mehr Quellen gibt und es viel näher an uns dran ist, schreiben so wenige darüber. Über den 17. Juni, ein entscheidendes Datum in der deutschen Geschichte, gibt es wenige Romane. Es gibt „Fünf Tage im Juni“ von Stefan Heym, dann „Sommergewitter“ von Erich Loest, und „Das Impressum“ von Hermann Kant, sonst ist mir kein Roman bewusst. Eigentlich ist es doch ideal: Es war ein entscheidender Moment in der Geschichte und man kann noch Leute dazu befragen.
Histo-Couch: Sie sind selber in der DDR geboren und aufgewachsen. Wie haben Sie damals das Leben empfunden? Hat der Staat viel in Ihr eigenes Alltagsleben eingegriffen, haben Sie Repressalien zu spüren bekommen?
Titus Müller: Ich hatte eine schöne Kindheit, ich bin glücklich aufgewachsen. Man kann auch ohne Bananen und Kiwis glücklich sein. (lacht) Da ich aber kein Thälmannpionier war, habe ich auch Ärger bekommen. Zum Beispiel gab es bei uns morgens Politdiskussionen in der Schule, und wenn ich mich gemeldet habe, war mein Arm für die Lehrerin Luft, sie wollte meine Meinung nicht hören. Ein Freund von mir war Pionierleiter, wir waren gut befreundet, haben zusammen gespielt, haben heimlich Westfernsehen geschaut, obwohl seine Eltern in der Partei waren. Trotzdem musste er meinen Schulranzen durchsuchen. Das war ein eigenartiger Moment. Wir waren doch Freunde! Auch beim Fahnenappell hatte ich, im Gegensatz zu den anderen Schülern, nicht die Pionierkleidung an. Die Direktorin hat mich dann aufgefordert, ich solle wenigstens etwas ähnliches anziehen.
Histo-Couch: Die Religionsausübung ist Ihnen aber nicht schwer gemacht worden? Sie sagen, Sie sind Pastorensohn, gab es da Schwierigkeiten?
Titus Müller: Nein, man durfte in der DDR zur Kirche gehen, das wurde in keiner Weise behindert. Allerdings durfte man für den Glauben keine Werbung machen, also zum Beispiel nicht zu kirchlichen Veranstaltungen oder Vorträgen einladen. Was mich natürlich eingeschränkt hätte, war, dass ich kein Abitur hätte machen dürfen. Ich hätte nicht studieren können. Ich hätte auch nie Bücher schreiben dürfen, jede Seite, die irgendwie vervielfältig werden sollte, musste vorher genehmigt werden. Autor wäre daher kein Beruf für mich gewesen. Ich wäre Bäcker geworden.
Histo-Couch: Wie haben Sie persönlich den Mauerfall erlebt? Wann und wie haben sie davon erfahren?
Titus Müller: Es fiel schon in der Schule auf, dass viele Schüler fehlten. Da war mir klar, irgendetwas stimmt nicht. Nach der Schule sind wir dann mit unserer Mutter nach Westberlin gefahren. Ich erinnere mich noch an den Moment, als uns an der Grenze ein Stempel in den Ausweis gedonnert wurde, und ich dachte, dass wir jetzt nicht mehr zurück dürften, weil man ja erkennen konnte, dass wir über die Grenze gegangen waren. Aber es war aufregend, man war euphorisch! Was ich da im Westen sah, wirkte wie aus dem Jahr 2000. Es war ja 1989, da war 2000 die Zukunft. Seit dem Mauerfall habe ich die Freiheit sehr genossen, Von 1991 bis 1992 haben wir als Familie in den USA gelebt, und bis heute reise ich sehr gerne. Ich mag es auch, dass ich unbeschränkt bin in dem, was ich lesen und was ich sagen darf. Das ist für mich wichtig.
Histo-Couch: Man liest ja immer wieder, dass die „Generation Wende“ gerade in der DDR nach dem Mauerfall eine Phase der Orientierungslosigkeit durchgemacht hätte, weil plötzlich alles anders, weil die Wahlmöglichkeiten plötzlich viel größer waren. Das traf auf Sie offenbar nicht zu?
Titus Müller: Da kamen mir zwei Dinge zugute. Erstens fälle ich sehr gern Entscheidungen. Wenn ich in ein Restaurant gehe, schaue ich kurz in die Karte und weiß, was ich will. Daher war es für mich nicht schwierig, dass es plötzlich viel zu entscheiden gab. Zweitens bin ich, glaube ich, jung genug, ich war erst zwölf bei der Wende. Von daher hat es nur Gutes für mich gebracht, und ich habe keine Orientierungslosigkeit erlebt. Aber ich verstehe, dass es anderen so ergangen ist, die älter waren, das war natürlich ein krasser Wechsel.
Histo-Couch: Würden Sie rückblickend sagen, dass es etwas gab, das man während der Wende anders hätte machen können? Gerade von den politischen Entscheidungsträgern?
Titus Müller: Eigentlich können wir heilfroh sein, dass es so gelaufen ist. Ich meine, sie hätten auch Panzer schicken können wie 1953. Das wäre die „chinesische Lösung“ gewesen, das war durchaus eine Option -einfach alles niederbügeln. Zum Glück war die UdSSR damals geschwächt, und alles war schon am Auseinanderfallen, deshalb hat man die Füße still gehalten. Ich bin heilfroh.
Histo-Couch: Um auf den „Tag X“ zurückzukommen: Meinen Sie, damals wäre bereits eine Wiedervereinigung möglich gewesen?
Titus Müller: Beria, der Nachfolger Stalins an der Macht der UdSSR, wollte die DDR wohl gern hergeben und ein neutrales vereintes Deutschland schaffen, aber dafür wollte er zehn Milliarden US-Dollar haben. Adenauer hingegen hatte sich schon auf die Westanbindung der BRD festgelegt, er wollte zur NATO gehören, und das passte nicht zusammen. Hätten sie sich geeinigt …man weiß es nicht. Damals hatte Adenauer die Vermutung, Berias Angebote seien nicht echt, er wolle ihn nur aus den Verhandlungen mit der Nato rauskicken. Ich kann nicht beurteilen, ob Beria es wirklich gemacht hätte, aber ich denke schon. Es hätte vielleicht die Wiedervereinigung geben können mit einem neutralen Deutschland, ähnlich der Schweiz.
Histo-Couch: Im Roman ist es ja so, dass die ostdeutsche Regierung in einigen Dingen zurückrudert, um der Bevölkerung das Leben angenehmer zu machen. Hat das die Unruhen noch verstärkt, weil die Leute die Schwäche sozusagen gerochen haben?
Titus Müller: Unbedingt! Die Kritiker wussten ja nicht, dass es so viele gibt, die das genauso kritisch sahen, es wurde nicht offen darüber gesprochen. Aber als in der Zeitung, in der sonst nur Lobhudeleien standen, plötzlich zu lesen stand: „Wir haben Fehler gemacht, wir nehmen dies zurück, wir nehmen das zurück“, das hat ermutigt. Das Hauptmoment, glaube ich, war aber, dass es diesen Mangel gab, an Brot und Milch und Gemüse. Man musste Schlange stehen, und bis 1958 gab es in der DDR noch Lebensmittelmarken für Zucker, Fleisch und Butter, die bekam man nur begrenzt. Zudem war die Normerhöhung nicht zurückgenommen worden, das hieß für viele 30 Prozent Lohneinbußen, da die Überstundenzuschläge wegfielen. Dass man soviel zurückgenommen hat, aber ausgerecht die Normerhöhung nicht, das hat die Leute wütend gemacht.
Histo-Couch: Nun ein anderes Thema. Sie sind ja verheiratet und haben zwei kleine Kinder. Hat das Ihr Schreiben verändert? Besonders im Hinblick auf die Themenauswahl und Ihre Sicht auf die Themen?
Titus Müller: Auf jeden Fall. Ich werde häufiger unterbrochen. (lacht) Ich denke schon, dass es meinen Horizont in eine Richtung erweitert hat, die ich vorher so nicht kannte. In „Der Tag X“ ist Nelly zu Beginn noch sehr jung, gerade zwölf. Und momentan schreibe ich an einem Buch, in dem ein Kind eine Hauptrolle spielen wird.
Histo-Couch: Haben Sie von den Büchern, die Sie geschrieben haben, ein Lieblingsbuch, von dem Sie denken, das ist Ihnen so richtig gut gelungen?
Titus Müller: Momentan sind „Der Tag X“ und „Nachtauge“ meine Lieblinge. Aber das kann sich auch wieder ändern.
Histo-Couch: Gibt es im Gegenzug ein Buch, von dem Sie sagen, dass es zwar ganz o.k. sei, aber nicht der große Wurf?
Titus Müller: „Die Priestertochter“, mein zweites Buch, ist ziemlich gefloppt. Das liegt aber, denke ich, auch an den slawischen Namen und der düsteren Stimmung in der Geschichte. An meinem ersten Roman, „Der Kalligraph des Bischofs“, weiß ich auch einiges auszusetzen. Die Geschichte beruht auf zu vielen Zufällen. Das würde ich heute anders machen. Erstaunlicherweise sagen mir immer wieder Leser, „Der Kalligraph“ sei bis heute ihr Lieblingsbuch unter meinen Romanen. Vergoldet die Erinnerung im Laufe der Jahre ihr Lesererlebnis?
Histo-Couch: In einem anderen Interview haben Sie einmal gesagt, dass sie als Leser alles querbeet lesen. Könnten Sie sich vorstellen, mal in einem komplett anderen Genre zu schreiben?
Titus Müller: Durchaus. Aber es zieht mich immer wieder zur Geschichte, da gibt es noch soviel Spannendes zu erforschen! Wenn ich nicht darüber schreiben würde, würde ich trotzdem recherchieren wollen, um mehr zu erfahren.
Histo-Couch: Haben Sie als Leser eigentlich ein Lieblingsbuch oder einen Lieblingsautor, der aus der ganzen Masse heraus sticht?
Titus Müller: Bei den historischen Romanen mag ich gern Edward Rutherfurd. „Im Rausch der Freiheit“ heißt sein Roman über New York, und gerade habe ich mir antiquarisch seinen Roman „Russka“ gekauft. Alfred Döblin lese ich auch sehr gerne, mehr um der Sprache willen. Aber es fällt mir schwer, mich auf bestimmte Autoren festzulegen, ich lese so viel und schätze die Abwechslung.
Histo-Couch: Zum Abschluss noch die obligatorische Frage nach dem nächsten Projekt. Können Sie uns schon etwas darüber verraten?
Titus Müller: Wahrscheinlich geht es ins frühe 20. Jahrhundert, aber das ist noch nicht ganz sicher.
Histo-Couch: Vielen Dank für dieses interessante Interview!
Das Interview führte Birgit Borloni.
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