Das Bücherzimmer

  • dtv
  • Erschienen: Januar 2004
  • 7
  • dtv, 2004, Titel: 'Das Bücherzimmer', Originalausgabe
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Daniela Loisl
901001

Histo-Couch Rezension vonJun 2008

Still, leise und doch eine immens starke und kraftvolle Erzählung

Kurzgefasst:

Einem unehelichen Kind stehen nicht alle Türen offen in der österreichischen Provinz. Die vierzehnjährige Marie muss froh sein, dass sie Dienstmädchen in der großen Stadt Linz werden darf. Aber am leichten Leben der Stadtmenschen, die ihre Tage mit Zeitunglesen, Tennisspielen und Reisen zubringen, darf das Mädchen nicht teilhaben. Ihr Leben ist von harter Arbeit und strengen Regeln geprägt, die von der betagten Haushälterin eisern durchgesetzt werden. Nur ganz allmählich eröffnen sich Freiräume, nur ganz allmählich zeigen die "gnädige Frau" und der "gnädige Herr" auch einmal menschliche Züge.

Und dann beginnt sich der Franz für das junge Mädchen zu interessieren, ein fescher Bursche, der Sohn eines gutverdienenden Bäckers, der sogar ein Motorrad besitzt. Nach zähem Ringen mit den Eltern wird Marie seine Frau. Die Hochzeitsreise führt nach Wien, und nun könnte eigentlich alles gut werden, wenn da
nicht die Politik wäre.

Man schreibt das Jahr 1938, Österreich ist annektiert worden, in Linz wird ein riesiges Stahlwerk gebaut und alle, die den neuen Herren im Weg stehen, werden beseitigt. Da wird dann auch manche private Rechnung beglichen...

 

Linz an der Donau Anfang der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts. Marie Zweisam wächst wohlbehütet bei ihrer Mutter auf dem Land auf. In der Schule stets die Beste, spürt sie dennoch den Makel, an den sie stets erinnert wird, denn sie ist ein uneheliches Kind. Als 14jährige wird sie in die Stadt Linz geschickt, um sich in einer großen Stadtvilla als Dienstmädchen zu verdingen. Auch spürt sie, dass sie nicht hier hergehört, hält aber eisern durch, bis sie der Onkel eines Tages zurück nach Hause holt. Aus Einsamkeit heiratet sie schließlich den Sohn eines angesehenen Bäckers aus Linz und hofft, nun endlich ihr Glück gefunden zu haben. Doch dann übernehmen die Nazis das Land und das ganze Leben krempelt sich um.

Fulminante Sprache und realitätsnahe Erzählung

Rosemarie Marschner erzählt vom Leben einer jungen Frau zwischen den beiden Weltkriegen. Ihre sehr leichte und schnörkellose, beinah möchte man sagen karge Sprache machen für den Leser die Empfindungen der Protagonistin spürbar. Mit 14 ist sie in den Dienst in eine ihr gänzlich fremde Stadt gekommen, mit Menschen, die auf sie herabsehen und Arbeit, die sie nicht gewohnt ist. Marschner hat eine schon unheimliche Art, dem Leser das damalige Leben der einfachen Leute nahezubringen, ohne dass dies in irgendeiner Weise effektheischend oder gar bemitleidenswert wirkt. Sie legt die Geschehnisse so dar wie sie waren. Ohne Beschönigung, ohne zu werten und nüchtern realitätsbezogen. Nüchtern. So wirkt ihre glatte und doch so großartige Sprache zu Beginn auf den Leser, aber nach längerer Betrachtung, nach einem sich Einlassen auf die so außergewöhnliche Sprache merkt man schnell, wie viel Kraft und Tiefe die Autorin damit ihrer Erzählung verleiht.

Einblicke in das Milieu der damaligen Mittelschicht

Ihr leiblicher Vater, Sohn aus einer angesehenen Familie, liebte Maries Mutter, konnte sie aber aus gesellschaftlichen Gründen nicht heiraten. Die Beziehung zwischen Mutter und Tochter ist eng, wenngleich weder Koseworte noch zärtliche Berührungen üblich sind. Viel zu sehr hat man Angst, man könnte verweichlichen und das harte Leben nicht mehr ertragen. Als Maries Mutter stirbt, hat sie damit den letzten Menschen verloren dem sie etwas bedeutet hat und stolpert so in die Ehe mit dem Muttersöhnchen Franz.

Sowohl der Alltag als Dienstmädchen wie auch das Leben als junge Bäckersfrau ist der Autorin so eindringlich und glaubwürdig gelungen, dass man meinen könnte, man sei der jungen Frau schon selbst begegnet. Ihre innere Zerrissenheit, das Bewusstsein, dass sie nur aus Einsamkeit geheiratet hat, ihrem Mann aber schuldig ist, ihm eine gute Ehefrau zu sein, lässt sie leiden und dennoch kämpfen. Selten gelingt es einem Autor so gut, den Blick ins Innere eines Menschen so glaubwürdig und vor allem nachvollziehbar darzustellen

Beängstigende Szenen

Linz war eine der Lieblingsstädte Hitlers. Marschners Protagonistin Marie erlebt den Wandel der Zeit mit und ist klug genug, alles mit der nötigen Distanz zu betrachten aber dennoch zu schweigen. Der alte Herr, bei dessen Tochter sie im Dienst stand, ermöglichte ihr als erster Mensch einen Blick über ihre bisherigen Grenzen hinaus, hinaus in eine Welt, in der sie ihren Platz noch nicht gefunden hat. Erst in ihrer Ehe und der sukzessiven Machtübernahme durch Hitler weiß sie mit den Worten des alten Herrn etwas anzufangen. Durch Marie erlebt der Leser die Übernahme durch die Nazis, den Einmarsch Hitlers in Linz und die Demütigung der Juden auf schaurig realistische Weise mit.

Hat man noch das Glück, Linz und die Umgebung gut zu kennen, trifft es einen bis ins Innerste, wenn man miterlebt, wie das kleine Dorf St. Peter weichen musste, um den Göring-Werken, der heutigen VOEST, Platz zu machen. Die historisch politischen Begebenheiten werden noch einmal lebendig und durch die so klare und differenzierte Darstellung, wird dem Leser eine gänzlich neue Perspektive geboten, mit der die Menschen damals diese Zeit erlebten.

Ein stilles Buch mit geballter Kraft und immensem Tiefgang. Keine Lektüre die man zum Abschalten genießen kann, sondern den Leser anregt und auch aufregt. Ein Buch, das nachhaltig in Erinnerung bleibt und dessen Protagonistin man so gerne kennen gelernt hätte.

Das Bücherzimmer

Rosemarie Marschner, dtv

Das Bücherzimmer

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