Das rote Licht des Mondes
- Wunderlich
- Erschienen: Januar 2008
- 9
- Wunderlich, 2008, Titel: 'Das rote Licht des Mondes', Originalausgabe
Nicht schon wieder ... oder doch!?
Kurzgefasst:
Ruhrort, 1854: Eine neue Zeit bricht an. Lina Kaufmeister, Tochter eines angesehenen Spediteurs und Reeders, blüht in den Jahren des Umbruchs auf. Sie ist eine begnadete Schneiderin und träumt davon, sich selbständig zu machen. Ihr Bruder Georg, nach dem Tod des Vaters Linas Vormund, verweigert das Erbe. Lina plant daraufhin heimlich ihren Auszug.An einem nebligen Abend stößt Lina auf die grausam zugerichteten Leichen zweier Mädchen. Der Anblick lässt sie nicht mehr los: Beiden wurden die Herzen, dem älteren sogar ein Kind aus dem Leib geschnitten. Während der Bürgermeister glaubt, nur ein Durchreisender könne die Morde begangen haben, vermutet Lina den Schuldigen in der angesehenen Bürgerschaft. Zusammen mit dem neuen Commissar Robert Borghoff, dessen ungewöhnliche Ermittlungsmethoden mit großem Misstrauen betrachtet werden, kommt sie einer Verschwörung auf die Spur. Doch die Schuldigen sind schwer zu fassen. Und als der Blutmond die Stadt in sein rotes Licht taucht, ist keiner mehr sicher ...
Die Mitte des 19. Jahrhunderts zu Beginn der Industrialisierung. Eine junge, intelligente Frau, die sich gegen die herrschenden Sitten auflehnt. Rätselhafte bestialische Morde. Diese Mischung scheint bekannt. Ist das etwa ein weiterer armseliger Versuch, die englische Gothic Novel mit einer Emanzipationsgeschichte und der x-ten Version der Jack-the-Ripper-Story zu verquicken? So wie es Michael Peinkofer in seinem Roman Der Schatten von Thot getan und ihn mit Pauken und Trompeten in den nordafrikanischen Wüstensand gesetzt hat? Nein, ist es nicht. Silvia Kaffkes Roman Das rote Licht des Mondes ist besser. Viel besser.
Einheit von Zeit und Ort
Das Ganze spielt nicht in London und Ägypten. Es spielt in Deutschland, im Ruhrgebiet, in Ruhrort. Jener Stadt, die im Jahr 1854 noch in Konkurrenz zu Duisburg stand. Zwischen dem Prolog (28. Oktober 1854) und dem Epilog (14. Juli 1856) wird der Schauplatz nicht gewechselt. Es gibt keine Reise der Beteiligten in fremde Länder, um seltsame Ereignisse aufzuklären. Es gibt nur Ruhrort und die Menschen, die dort leben und arbeiten. Die Macher amerikanischer TV-Serien nennen so etwas "bottle show": Wie in einem Flaschenschiff spielt die Handlung einer Serien-Folge an einem einzigen Ort. Zumeist werden solche Folgen produziert, um Geld für aufwändige Kulissen und/oder Ortswechsel zu sparen. Oft genug sind das jedoch die spannendsten Episoden, weil die Autoren der Umgebung wenig, ihren Figuren dafür umso mehr Aufmerksamkeit schenken.
Romane haben diese Beschränkungen normalerweise nicht. Aber Silvia Kaffke nutzt die räumliche Begrenzung, um ihre Charaktere sehr sorgfältig zu zeichnen. Die Hauptperson Lina Kaufmeister kämpft in ihrer Familie um Anerkennung. Sie hat eine versteifte Hüfte, deswegen geht ihr Bruder Georg, der nach dem Tod des Vaters das Familienoberhaupt ist, davon aus, dass sie nicht verheiratet werden kann. So wird Lina zur obersten Haushälterin und nimmt Georgs holländischer Frau Aaltje, die ständig schwanger ist, aber nur lebensunfähige Kinder zur Welt bringt, die Arbeit ab. Irgendwann jedoch nutzt Lina ihre Chance:
Sie zieht aus dem Familiensitz aus und nimmt sich eine eigene kleine Wohnung. Sie, die talentierte Schneiderin, beginnt, eigenes Geld mit Änderungsschneidereien zu verdienen. Doch ein Teil ihres Umfeldes, allen voran ihr Bruder Georg, ächtet sie wegen dieses eklatanten Verstoßes gegen die "guten Sitten": Eine anständige Frau lebt nicht allein, sie darf kein eigenes Geld verdienen, nicht ohne Aufsicht fremde Menschen treffen. Einige Verwandte jedoch - darunter vornehmlich Frauen - halten zu ihr und empfinden diese Sitten als überholt.+
Emanzipation
So ist Silvia Kaffkes Roman zunächst ein Sittengemälde, und zwar ein sehr detailliertes. Er beleuchtet das Leben im preußischen Polizeistaat des 19. Jahrhunderts. Berlin und der preußische König sind weit weg und so können sich in der westfälischen Provinz fast ungestört recht fortschrittliche Gedanken entwickeln. Lina Kaufmeister steht hierbei für die weibliche Emanzipation. Commissar Robert Borghoff ist Symbol für eine andere Emanzipation, nämlich die der Abkehr vom Überwachungsstaat und hin zur Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz.
Seine Ermittlungsmethoden verlassen sich nicht auf althergebrachte Verdachtsmomente, die Schuld oder Unschuld allein aus Herkunft und Bildung ableiten. Er sucht die Wahrheit anhand von Fakten. Er lässt Leichen sezieren, anstatt sie einfach nur zu verbuddeln. Er lässt Verdächtige überwachen, anstatt sie vom Fleck weg zu verhaften. Damit geht er auf Konfrontationskurs mit seinem Dienstherren, dem Bürgermeister (so war das damals!). Aber seine Ergebnisse rechtfertigen sein Vorgehen. Unausweichlich (jedenfalls literarisch) treffen Lina und der Commissar aufeinander. Ebenso unausweichlich beenden sie die Geschichte gemeinsam. So ganz mochte die Autorin doch nicht auf Soap-Opera-Elemente verzichten. Aber die machen das Lesen des Buches ja auch angenehm.
Der Fall
Denn der Grund, weswegen dieser Roman ein historischer Kriminalroman ist, ist alles andere als angenehm. Es beginnt mit den Leichen zweier Mädchen, die des Nachts auf der Straße gefunden werden. Vom älteren der beiden erfährt man, dass es sich prostituierte und ein Kind erwartete. Das Ungeborene wurde aus ihrem Körper geschnitten, ebenso wie die Herzen aus beiden Leichen.
Die Bestialität und Grausamkeit der Morde verstört die Ruhrorter. So etwas hier? Eine Kutsche wurde in der Nähe des Fundortes der Leichen beobachtet, wie sie im dichten Nebel verschwand. Solche Kutschen fahren in Ruhrort nur betuchte Bürger. Aber die sind doch über jeden Verdacht erhaben. Sagt der Bürgermeister. Aber sind sie das wirklich? Lina Kaufmeister wird per Zufall in diesen Fall hineingezogen, sie und ein Dienstjunge finden die beiden Leichen. Lina sollte, aber kann nicht von diesem Rätsel lassen, auch weil sie in jenem Haus ihre kleine Wohnung bezieht, in dem der ermittelnde Commissar Borghoff wohnt. Ein angenehmer Zufall.
Ein bisschen Fantasy
Das Rätsel um die beiden ermordeten Kinder entwickelt sich zu einem Fall, in dem Teufelsanbeter und Wechselbälger, nächtliche Treffen in finsteren Kellern und Schizophrenie eine Rolle spielen. Eigentlich sollte diese inhaltliche Schere - das wirkliche Leben gegen die Phantastik okkulter Geheimgesellschaften - für Irritationen sorgen. Doch der Autorin gelingt es, beide Ebenen sinnvoll, geschickt und vor allem glaubhaft miteinander zu verknüpfen. Silvia Kaffke legt einen Roman vor, der viel Spannung, ein wenig Fantasy und detailliertes Wissen um die - bislang wenig in Romanen verarbeiteten - Anfänge des Ruhrgebietes vereint. Man möchte einerseits nicht davon lassen, weil man die weiteren Schritte erfahren will. Muss man eine Lesepause einlegen, kann es jedoch vorkommen, dass man sich nicht wieder daran traut, aus Angst um die Hauptfiguren. Friedvolle Geister sollten das Buch vielleicht nicht in den Abendstunden lesen ...
Silvia Kaffke, Wunderlich
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