Die Rache des Kaisers

  • Page & Turner
  • Erschienen: Januar 2009
  • 3
  • Page & Turner, 2009, Titel: 'Die Rache des Kaisers', Originalausgabe
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Volker Faßnacht
981001

Histo-Couch Rezension vonOkt 2009

Die Geschichte eines Racheengels

Kurzgefasst:

Jakob Spengler ist erst 15 Jahre alt, als er vom Waldrand aus zusehen muss, wie Söldner sein Dorf zerstören und alle Bewohner ermorden - darunter seine gesamte Familie. Die Gesichter der vier Anführer brennen sich für immer in sein Gedächtnis. Reisende Fremde nehmen ihn mit, zuerst als Pferdeburschen und Dolmetscher, später als vertrauten Gefährten. Fünf Jahre lang begleitet er sie von Koblenz bis Kiew, von Nowgorod bis London. 1524 kehrt er als Zwanzigjähriger zurück an den Rhein. Jakob hatte sich geschworen, die Mörder seiner Familie eines Tages zu finden und zur Strecke zu bringen, aber nach all den Jahren ist die Fährte erkaltet, und eine lange Jagd beginnt.

Die Suche nach den Mördern führt ihn in die Wirren des Bauernkriegs, nach Rom, wo er Zeuge der Plünderung durch deutsche und spanische Truppen wird, ins von den Türken belagerte Wien, durch Frankreich und Navarra nach Andalusien, mit den Welsern nach Venezuela und schließlich zurück nach Europa. Auf seinem weiten Weg erlebt er Krieg und Liebe, erringt und verliert Reichtümer, leidet und lacht mit Bauern, Dirnen und Söldnern. Bis zu dem Tag, an dem er dem letzten seiner Feinde gegenübersteht - dem Mann, der einst alles angeordnet hatte...

 

 

 

[...] ich fühlte mich ausreichend gewappnet, bereit, mich jenen Lebenden zu stellen, die zu suchen mein Ziel, nein, mein Zweck war. Doch half all dies mir nicht, die Geister der Toten zu verscheuchen. Meiner Toten, der Menschen, die ich geliebt hatte und die mich in der Nacht umtanzten.
So saß ich auf einem Kissen aus Lumpen und Reisig, den Sattel im Rücken, atmete die kalte Nacht, roch den feuchten Waldboden, lauschte dem Regen auf dem Laubdach über uns und starrte dorthin, wo Glutpünktchen aufglommen, wenn ein Windhauch sich zur Feuerstelle verirrte. [...] Ich zog die schwere Lederdecke fester um mich, und ich glaube, es war zu dieser Zeit, in dieser Unstunde zwischen Nacht und Morgengrauen, dass ich zum ersten Mal seit langem zu beten versuchte.
Es war ein ganz einfaches Gebet, und da es keinerlei Wirkung hatte, richtete ich es nacheinander an alle mir bekannten Götter. Aber weder der allgütige Vater der Christen noch Allah der Allerbarmer noch jener, dessen Name - wie ich von Avram gelernt hatte - nicht genannt werden darf, mochten sich dazu herablassen, mir beizustehen, und auch Thors Hammer und Jupiters Blitz hatten offenbar dringendere Aufgaben, als mich von denen zu befreien, die durch meine Gedanken geisterten.

 

Ich - um in der selben Erzählperspektive zu bleiben - Jakob Spengler, der einzige Überlebende eines Massakers von Unbekannten an meinem ganzen Dorf, bin der Racheengel und Erzähler dieses Romans von Gisbert Haefs. Unschwer zu erraten, dass ich meinen Rachefeldzug überlebt habe und trotzdem bietet die Geschichte noch genügend Stoff, um abwechslungsreich und kurzweilig zu sein. Es ist eine Hatz quer durch Europa und reicht sogar bis zum neuen Kontinent.

Gewaltige Nähe durch die Ich-Perspektive des Protagonisten

Gerade die Ich-Perspektive des neuen Romans Die Rache des Kaisers von Gisbert Haefs erzeugt eine urgewaltige persönliche Nähe zu den Protagonisten und zur Handlung. So ist die Schilderung über die Gräuel der Auslöschung des Dorfes - gesehen mit den Augen des damals 15-Jährigen Jakob - nahezu bildlich vor dem Auge der Leserschaft, oder auch die Betrachtungsweise des mittlerweile 20-Jährigen, der nach der verheerenden Tat damals von fremden Reitern aufgenommen wird und eine umfassende Ausbildung erhält, so gänzlich anders. Ja, vorurteilsfrei und kulturell unabhängig trifft es wohl am besten. Aber diese ungewohnte Perspektive hat für diesen Roman noch einen weiteren Vorteil, nämlich den, dass die Leserschaft teilhaben kann an der Denkweise dieses Racheengels. Und so ist ein Grossteil des Romans weder Dialog noch Beschreibung der Handlung, sondern vielmehr das Gespräch des Protagonisten mit sich selbst. Nebenbei vermittelt der Autor so auch die Andersartigkeit der fremden Reisenden und deren Bildnis des Europas im 16. Jahrhundert.

Bauernaufstand, Reformation, Europäische Politik und die Türkenbelagerung von Wien

Und doch macht die persönliche Seite der Protagonisten insgesamt nur einen kleiner Teil dieses Romans aus. Gisbert Haefs gelingt eine brillante Darstellung der geschichtlichen Ereignisse. Er regt seine Figur "Jakob Spengler", wie auch seine Leser, zum Denken an:

 

 

Erst jetzt begriff ich, dass ihre Unkenntnis nicht eigenes Verschulden war. Sondern über Jahrhunderte absichtlich bewirkte Ohnmacht. Für die Herren ist es nicht erstrebenswert, den Knechten Wissen zu vermitteln. Statt das Wort der Herren und der Priester gleichsam als Wort Gottes hinzunehmen, könnten lesende Knechte andere Worte suchen und lesen, am Ende gar eigene Worte finden und aufhören wollen, Knecht zu sein. [...] Wer soll denn lesen und schreiben lernen, wenn er sich von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang auf den Äckern und in den Ställen plagen muss, nur um Abgaben leisten und vom Rest eher schlecht als recht essen zu können? [...] Und selbst wenn sie hätten lesen können, was hätten sie lesen sollen? Das einzige Buch war die Heilige Schrift, und deren Sprache war Latein; so waren sie selbst für das Wort Gottes auf die Vermittlung der geistlichen Herren angewiesen, deren Anliegen keineswegs sein konnte, die eigene Bedeutung und Macht zu mindern, indem sie die Schafe ihrer Herde mündig machten. Diese würden sich dann vielleicht nicht mehr treiben, scheren und schlachten lassen wollen.

 

Wichtige Ereignisse des 16. Jahrhundert im Zusammenhang

Wie in keinem anderen Roman verbinden sich die Ereignisse der Kaiserwahl 1519, des Bauernkrieges 1523/1525, mit dem Sacco di Roma 1527/1528, sowie der Belagerung Wiens durch die Türken im Jahr 1529, was ja letztendlich nur nackte Zahlen sind. Gisbert Haefs schildert das große Ganze hinter diesen nüchternen Daten: Deutsche Kleinstaaterei, den Streit der großen führenden Könige in Europa Karl V. und Franz I. um die Kaiserkrone (Habsburger gegen Valois), die Reformation des Martin Luther und sein Tun gegen die Unsitten des Ablasshandels und all deren Auswirkungen in Italien mit dem bündnisschwankenden Medici-Papst Clemens VII. und den Italienischen Kriegen zusammen mit der Bedrohung des Reiches im Osten durch die Osmanen unter Süleyman I. Viel Stoff also für einen Roman mit etwas über 400 Seiten.

Ein historisches Meisterwerk für erfahrene Leser des Genres

Vielleicht wäre es gut zu bemerken, dass die Leserschaft gefordert ist. Die Rache des Kaisers ist sicherlich kein Buch für Neulinge auf historischem Terrain. Hilfreich wäre es, die Geschehnisse in Italien ("Italienische Kriege") oder die geschichtlichen Zusammenhänge zwischen Karl V., Franz I. und der Familie Medici zu kennen, damit man das Netzwerk sieht und erahnt welch große Verschwörung hinter den Geschehnissen steckt, denn leider, und das dürfte der einzige Schwachpunkt des Romans sein, gibt es weder Anhang noch Glossar, wo die Leserschaft Lücken ihres Wissens auffüllen könnte.
Sind die Basiskenntnisse jedoch vorhanden, so erschließt sich die Europäische Geschichte dieser Epoche explosionsartig. Wie die Einzelteile eines Puzzles fügt sich zusammen, was die Leserschaft vielleicht vorher noch nie so zusammengehörend verstanden hat.

Deswegen ist Die Rache des Kaisers ein historisches Feuerwerk. In solider Hardcover-Verpackung, mit schöner - wenn auch bisweilen fast moderner - Sprache, welcher durch geschichtliche Fakten und überzeugendem Gedankengut besticht. Interessant zu lesen, wie der Autor soviel Handlung in so wenige Romanseiten packt. Und das Ende ist so überraschend böse und doch stimmig-schön, dass es schlicht als Meisterwerk zu bezeichnen ist. Ein Meisterwerk, das wohl auch 800 Seiten haben könnte, ohne auch nur eine Spur langweilig zu sein.

 

Die Rache des Kaisers

Gisbert Haefs, Page & Turner

Die Rache des Kaisers

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