Der Leuchtturm von Alexandria
- List
- Erschienen: Januar 1988
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- List, 1986, Titel: 'Beacon at Alexandria', Originalausgabe
Mitreißendes Frauenschicksal in der Spätantike
Kurzgefasst:
In einer aufregenden Zeit des Umbruchs, am Ende des 4. Jahrhunderts, erlebt die junge Charis ein abenteuerliches Schicksal. Um einem machtgierigen Stadthalter zu entgehen, muß die schöne, heilkundige Frau fliehen. Als Mann verkleidet gelangt sie nach Alexandria und avanciert ausgerechnet zum Militärarzt. Wegen ihrer besonderen Heilkunst wird sie verehrt - bis sie sich haltlos in einen Mann verliebt.
Ephesus im 4. Jahrhundert n. Chr.: Die fünfzehnjährige Charis wächst behütet als Tochter eines Konsuls auf. Ihre Mutter starb kurz nach ihrer Geburt, doch ihre Amme Maia und ihr älterer Bruder Thorion geben ihr all die Liebe, die sie braucht. Anders als andere Mädchen in ihrem Alter träumt Charis noch nicht von Kindern oder Ehe. Stattdessen interessiert sie sich lebhaft für die Heilkunst. Durch ihren Hauslehrer gelangt sie an die Schriften des Hippokrates, den sie bewundert - aber ein Medizinstudium ist für Frauen dieser Zeit undenkbar.
Ihr Leben ändert sich jäh, als der brutale Statthalter Festinus erst ihre Familie bedroht und dann Interesse an ihr zeigt. Aus Angst vor seiner Macht ist Charis' Vater bereit, ihm seine Tochter zur Frau zu geben. Die entsetzte Charis schmiedet einen Fluchtplan, bei dem ihr Bruder und ihre Amme helfen: Sie will sich als Eunuch verkleiden und nach Alexandria flüchten, um dort unerkannt Medizin zu studieren.
Ihre Flucht gelingt und nach einigen Startschwierigkeiten bekommt Charis alias Chariton eine Assistentenstelle bei dem jüdischen Arzt Philon, der sie schon bald wie ein Familienmitglied behandelt. In Alexandria blüht Charis auf und entwickelt sich zu einem guten und beliebten Arzt. Doch ihr Leben verläuft noch turbulenter, als sie zum Leibarzt des Erzbischofs berufen wird - und nach dessen Tod als Militärarzt in Römische Reich an die thrakische Front gelangt, wo ihr auch die Liebe begegnet ...
Von Charis aus Ephesus zum Eunuch Chariton nach Alexandria
Die Hosenrollen-Thematik ist prädestiniert für historische Romane. Bücher über Frauen in Männerkleidern, die sich auf der Flucht befinden, gibt es viele in diesem Genre, doch sehr selten gelingt ein Werk dabei so großartig wie Gillian Bradshaws Der Leuchtturm von Alexandria. Egal ob vielschichtige Charaktere, die vor den Augen des Lesers lebendig werden, eine höchst sympathische Protagonistin, die zum Identifizieren einlädt, eine bewegte Epoche mit hervorragend recherchierten historischen Details, reizvolle Einblicke in die Medizin der Spätantike oder ein Hauch von Romantik und Liebe, dabei ohne jeden trivialen Kitsch - der Roman bietet dies alles in Vollendung.
Es ist eine Zeit des Umbruchs, in der die junge Charis aufwächst. Politische und religiöse Konflikte sind an der Tagesordnung und selbst Familien edler Herkunft sind vor Verleumdung und Folter nicht gefeit. Das muss Charis mit eigenen Augen sehen, als ihr Vater fälschlich einer Intrige beschuldigt wird. Zwar gelingt es ihm, auch dank Charis' cleverem Eingreifen, diesen Verdacht abzuwenden - doch der rücksichtslose und machthungrige Statthalter Festinus entdeckt damit sein Interesse an dem aufmüpfigen jungen Mädchen. Charis' Vater sieht in der Verbindung zwischen den beiden die großartige Chance, Schutz zu erhalten und seine Stellung zu festigen. Bereits hier beginnt die differenzierte Darstellung der Charaktere, die selten schwarz oder weiß sind. Selbst Charis weiß, dass ihr Vater es nicht böse oder auch nur gleichgültig meint, dass ihm das Schicksal seiner Tochter nicht egal ist - sondern, dass er einfach Angst vor der Macht des skrupellosen Statthalters hat und in dieser Eheschließung das kleinere Übel sieht. Charis, ihre mütterliche Amme Maia und ihr Bruder Thorion suchen einen Ausweg. Zunächst denken sie an das Naheliegende, Charis rasch mit einem jungen Mann aus dem Bekanntenkreis zu verheiraten. Doch schon bald ist ihnen klar, dass bei aller Freundschaft niemand Festinus' Hass auf sich ziehen würde. Daher scheint Charis' kühner Plan das einzig Mögliche: Nach Ägypten flüchten und dort das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden, indem Charis endlich ihrer Berufung, der Heilkunst, nachgehen kann. Der ursprüngliche Plan sieht vor, dass sie sich dort für ein, zwei Jahre verstecken und zurückkehren soll, sobald Thorion einen eigenen Haushalt führt und Festinus eine andere Frau geheiratet hat.
Charaktere zum Verlieben
Die Ich-Erzählerin Charis ist natürlich Dreh- und Angelpunkt des Romans und eine Hauptfigur, wie sie kaum besser hätte gelingen können. Die Gefahr für Klischees liegt so hoch in dieser Konstellation und doch schafft es die Autorin, Charis davon auszunehmen. Sie ist eine durchaus hübsche Frau, aber keine herausragende Schönheit und während ihrer ärztlichen Tätigkeit riecht sie oft genug nach ihrem durch Kot oder Erbrochenem besudelten Umhang. Sie ist klug und belesen, aber keine Wunderheilerin. Ihr erster Patient, den sie allein behandelt, stirbt trotz intensiver Heilungsversuche - ein schwerer Schlag für das Mädchen, nicht nur, weil sie ihn kannte und mochte. "Chariton" ist ein sehr guter Arzt, aber vor allem während ihrer Lehrzeit bei Philon muss sie dennoch häufig Patienten sterben sehen. Sie ist keine Vorreiterin des Feminismus, keine Weltveränderin, sondern einfach nur ein Mädchen, das Medizin studieren und als Arzt praktizieren möchte. Bei all ihrem Erfolg und ihrer Charakterstärke gerät sie auch ab und zu ins Wanken - sie ist phasenweise durchaus verzweifelt, weil sie fürchtet, ihren Drang nach der Heilkunst niemals mit einem normalen Leben als Frau vereinen zu können. Auch erwägt sie mehrfach, nach Konstantinopel zu ihrem Bruder zu fliehen und somit allen Gefahren zu entkommen, ihre Zweifel sind sehr realistisch und machen sie zu einer gelungenen Identifikationsfigur. Charis Stärke liegt zum einen in ihrer Menschlichkeit und ihrem bedingungslosen Willen, zu helfen - zum anderen befolgt sie konsequent die Ratschläge des von ihr verehrten Hippokrates, den andere Mediziner noch nicht anerkannt haben. Damit ist sie kein Genie, sondern einfach nur weniger verbohrt als viele ihrer Kollegen, die sich auf Traditionen berufen und alle Neuerungen ablehnen. Erfreulicherweise kommen Liebe und Romantik erst im letzten Drittel des Romans überhaupt ins Spiel. Die Handlung verleitet sicher dazu, dass sich jemand unglücklich in Charis verliebt oder dass sie früh ihr Herz verliebt und es verbergen muss, aber all das wird erst spät thematisiert und auch die erotischen Szenen fallen angenehm sparsam dosiert aus.
Er ist ein Fanatiker, ganz recht. Seine Wahrheit wurde dem Propheten Hippokrates offenbart, dem eingeborenen Sohn des Gottes der Heilung, dessen Wort sein Gesetz ist - ausgenommen vielleicht, was die Dosierung von Nieswurz anbetrifft, über die Chariton seine eigenen ketzerischen Ansichten hegt.
Eine weitere sehr reizvolle Figur ist Philon, ihr Lehrer. Allein schon, dass ein jüdischer Arzt einen christlichen Eunuchen in die Lehre nimmt, ist eine ungewöhnliche Konstellation, die die beiden aber großartig meistern. Keiner der beiden hat Vorurteile gegen den anderen und Chariton wird zu einem Mitglied von Philons Familie. Der warmherzige Philon, der oft unentgeltlich seine ärmsten Patienten behandelt, wird für Charis eine Art Vaterersatz und vom Leser gleichsam ins Herz geschlossen. Eine gelungene Gestalt ist der Erzbischof Athanasios, dem Charis das Leben rettet - ein alter, schwacher und dennoch charismatischer Mann, ein scharfsinniger wie auch humorvoller Feingeist, der Charis' Tarnung als Erster durchschaut und ihr Geheimnis bewahrt. Nicht zu vergessen sind natürlich Charis' Amme Maia, die ihren Schützling wie eine Wölfin verteidigt und ihr Bruder Thorion, der seine Schwester zwar liebt, aber mehr und mehr Probleme mit ihrem gewählten Lebensweg hat. Und dann ist da noch Athanaric, ein Gote in römischen Diensten, dem Charis recht widerwillig das Leben rettet, denn leiden können sie sich anfangs nicht. Später allerdings revanchiert er sich für ihre Hilfe und an der thrakischen Front kommt es zu einer allmählichen Annäherung zwischen den beiden - bis jeder von ihnen Gefühle für den anderen spürt, die er am liebsten verdrängen würde. Athanaric ist kein Held von der ersten Begegnung an, dem Leser anfangs nicht einmal unbedingt sympathisch. Auch diese langsame und realistische Wandlung zählt zu den Stärken des Romans.
Realistische Schilderungen einer bunten Epoche
Wenn sich Frauen als Männer verkleiden, ist es immer schwierig für den Autor, dies glaubwürdig darzustellen - schließlich gibt es, egal in welcher Epoche, stets viele Falltreppen, die zur Entlarvung der Tarnung führen könnten. Besonders geschickt ist es daher, dass sich Charis nicht einfach als junger Mann, sondern als Eunuch verkleidet - das erklärt problemlos sowohl ihre femininen Züge als auch die helle Stimme und nicht zuletzt ihre angebliche Schamhaftigkeit, aufgrund deren sie sich nicht im Beisein anderer umziehen oder baden möchte. Sie gibt sich als Chariton aus, der in Ephesus als freier Diener lebte und nun von seinem großzügigen Herrn zum Studieren geschickt wird. Damit bleibt sie so nah wie möglich an der Wahrheit, denn ihr Akzent würde ohnehin früher oder später ihre Heimat verraten, ebenso wie ihre Bildung verrät, dass sie eine außergewöhnlich gute Herkunft haben muss.
Die Schauplätze des Romans wechseln mehrfach, von Ephesus in Kleinasien geht es ins ägyptische Alexandria, von dort aus in die römische Provinz Thrakien. Die Zeitumstände sind turbulent, es gibt Aufstände, ständig neue Regierungen, politische Unruhen. Dennoch gelingt es Gillian Bradshaw auf faszinierende Weise, auch den uninformierten Leser bei der Stange zu halten. Der Fokus liegt so stark auf Charis und ihrem bewegten Schicksal, dass es überhaupt nicht ins Gewicht fällt, wenn man nicht alle Hintergründe zur damaligen Zeit kennt. Alle nötigen Informationen werden wie beiläufig eingeflochten und reichen vollkommen aus, um sich ein umfassendes Bild zu machen. Der Alltag der Spätantike wird dem Leser rasch vertraut, von den Lebens- und Wohnbedingungen über die Hygiene bis hin zu den medizinischen Behandlungen. Nicht immer ist es angenehm, über all die Gerüche und Ausscheidungen zu lesen, aber gleichzeitig kann der Leser nicht anders, als auch diesen Schilderungen gebannt zu folgen. Auch humorvolle Szenen bleiben nicht aus, etwa in den Dialogen zwischen Charis und Erzbischof Athanasios oder wenn ihr Hauslehrer entzückt über Hippokrates' Sprache schwärmt, dem medizinischen Inhalt aber offenbar wenig abgewinnen kann.
Schwächen muss man in diesem Roman wahrlich mit der Lupe suchen. Vielleicht ist es ein wenig schade, dass die ersten Tage von Charis als Eunuch so sparsam geschildert werden. Die Schiffsfahrt von Ephesus nach Alexandria wird quasi übergangen, auch das Einleben in Alexandria wird sehr gerafft dargestellt. Einen kleinen Haken hat Charis' Tarngeschichte über die Herkunft Charitons: Es ist zwar geschickt, dass sie ihre wahre Heimatstadt nennt, da sie so weniger Gefahr läuft, sich durch ihre Sprache zu verraten. Aber sie geht sogar so weit, dass sie ihren Hauslehrer als ihren Vetter ausgibt und so ihre leibliche Familie als ihre früheren Arbeitgeber darstellt. Das ist allerdings äußerst riskant, denn die Geschichte von der verschwundenen Braut aus Ephesus hat sich bis nach Alexandria herumgesprochen. Sogar in Charis' Umfeld spricht man davon und es ist reine Glückssache, dass anscheinend niemand den Namen der jungen Frau weiß, da es sonst ein Leichtes wäre, von der vermissten Charis auf den plötzlich aufgetauchten Chariton zu schließen, der angeblich im gleichen Haushalt lebte. Schön wäre noch eine kurze Erläuterung der Währungen gewesen, da man sich nicht sofort den Wert der Solidi vorstellen kann, die Charis zur Verfügung hat.
Fazit: Ein erstklassiger Historienroman mit faszinierenden Charakteren, der seinen Leser gnadenlos in den Bann schlägt. Wer sich bisher nicht mit Frauen in Männerkleidern anfreunden konnte, sollte Charis eine Chance geben.
Gillian Bradshaw, List
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