Anima
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- Erschienen: Januar 2010
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- , 2010, Titel: 'Anima', Originalausgabe
Laufen, um die Welt zu vergessen
Kurzgefasst:
Anselm Ender läuft, wie andere atmen. 1866 im westlichsten Kronland der Monarchie in triste Verhältnisse geboren, wacht der Vierjährige eines Nachts auf und rennt, von innerem Zwang getrieben, stundenlang durch taufeuchte Wiesen und Wege des Vorarlberger Riedlandes. Als Kind und junger Mann verdingt sich Anselm in einer Textilfabrik, als Schweinehirte und Holzarbeiter. Jede dieser Stationen ist von Ausnutzung und Erniedrigung geprägt, und jede endet tragisch: mit Unglücksfällen, Krankheiten und Tod. Das Laufen bleibt dabei sein Fixpunkt, sein Halt. Als seine geliebte Mutter umkommt, beschließt er, sich selbst zu töten - durch einen Dauerlauf, ohne Wasser zu trinken. Doch Anselm verfügt über ungeahnte Ausdauer, nur eine von mehreren ungewöhnlichen Fähigkeiten dieses sonst in jeder Hinsicht benachteiligten jungen Mannes...
Anselm Ender ist anders als andere. Geboren in einer düsteren Kellerwohnung in Hohenems vegetiert das Kind im tristen Hinterhof vor sich hin. Denn Anselm hat nicht nur ein Muttermal in Form eines auf dem Kopf stehenden Kreuzes, er ist auch durch einen riesigen Mund entstellt. Die Menschen in Hohenems wittern hinter dem Jungen ein unglückseliges Omen und verstoßen ihn aus der Gesellschaft. Das größte Glück Anselms sind die Gerüche und Eindrücke der Natur. Als er einen Ausweg aus dem Hinterhof entdeckt, beginnt er zu Laufen. Stundenlang ist er in der nächtlichen Landschaft unterwegs und kann auf diese Weise vergessen, was die Welt ihm angetan hat. Doch dann zwingt ihn sein gewalttätiger Vater als Arbeiter in eine Fabrik. Für Anselm beginnt eine schlimme Zeit.
Anders sein
In seinem Debüt-Roman präsentiert Jürgen-Thomas Ernst die Geschichte vom anders sein. Die Gesellschaft meidet das Kind, das in kein Schema passt und dichtet ihm, aber auch der Mutter, aus deren Schoss das Unglück gekommen ist, zahlreiche düstere Dinge an. Verstohlen wird die Hexenverbrennung herauf beschworen, die im späten 19. Jahrhundert in Österreich nicht mehr praktiziert wird, aber den verstörten Leuten als probates Mittel scheint, den "Kretin" los zu werden. Selbst Anselms Eltern - vor allem aber sein Vater - hoffen auf einen baldigen Tod des hässlichen Kindes. Anders als die Gesellschaft reagiert die Obrigkeit: Anselm wird durch einen Arzt abgeklärt und für gesund und "normal" befunden. Dieser Befund soll die Ausgrenzung des Kindes verhindern, was aber misslingt. Der Autor zeigt hier die Zerrissenheit der Menschen zwischen aufgeklärt sein und Aberglaube auf. Äußerst subtil weist er auch darauf hin, dass es über hundert Jahre später wohl nur begrenzt anders sein würde als damals.
Keine echte Chance
Der Roman zeigt eindrücklich auf, dass einem mit etlichen Talenten ausgestatteten Menschen, der sich optisch von den anderen unterscheidet, nur wenig bis keine Chancen gegeben sind. Selbst als Anselm sein Lauf-Talent an einem Wettkampf in Zürich unter Beweis stellt, wird er - der alles andere als einen strahlenden Athleten darstellt - in den Hintergrund gedrängt und vergessen. Doch scheint dem jungen Menschen ein unglaublicher Überlebenswille gegeben, der dafür sorgt, dass er sich immer wieder durschlagen kann. Dabei bezieht sich der Autor gemäß Vorwort auf ein Manuskript, das auf einem Dachboden in Hohenems gefunden wurde und das Leben des außergewöhnlichen Läufers Anselm Ender wieder gibt.
Eigener Schreibstil
Vage erinnert der Roman Anima an Werke wie Schlafes Bruder oder Das Parfüm. Dies einerseits durch den sehr eigenen, aber überaus faszinierenden Schreibstil, den der Autor pflegt. Andererseits aber auch durch die Geschichte, die stark auf den Sinnen aufgebaut ist. Diese Gewichtung gibt dem Roman denn auch eine gewisse Sinnlichkeit und lässt vor dem inneren Auge äußerst intensive Bilder entstehen, die manchmal so schwülstig daher kommen, dass man glaubt, von den unangenehmen Gerüchen und Bildern umgeben zu sein. Dazu kommt, dass der Autor sorgfältig recherchiert hat, was die Örtlichkeiten betrifft - wer mit der beschriebenen Gegend vertraut ist, kann sich problemlos ein detailliertes Bild von den Wanderungen Anselms machen.
Aufdringliche Szenen
Anima - dessen Titel durch den Verlauf des Romans höchstens erahnt werden kann, der sich aber nicht unbedingt erschließt -, könnte als ein durch und durch gelungenes Werk bezeichnet werden. Wenn da nicht einige Szenen wären, die wohl vor allem um des Effektes willen eingebaut wurden und eher unangenehm auffallen, denn in den Ablauf passen. In diese Kategorie gehört unter anderem das wiederholte Urinieren auf einen anderen Menschen. Schade, durch diese Bilder stört der Autor die an sich äußerst eindrücklichen Bilder - die durchaus auch unschöne Szenen beinhalten, ohne einen Bruch zu verursachen - unnötig.
Gute Figurenzeichnung
Dennoch: Anima ist ein intensiver und außergewöhnlicher Roman, der unter anderem mit einer ausgezeichneten Figurenzeichnung besticht. Der Autor versteht es meisterhaft, laute und leise Töne zu mischen und dadurch eine Gesellschaft entstehen zu lassen, die alle Schattierungen des menschlichen Daseins aufweist.
Wer auf der Suche nach einem "besonderen" Roman ist, darf bei Anima bedenkenlos zugreifen. Es ist zu hoffen, dass vom Autor in absehbarer Zeit noch Einiges zu lesen sein wird, ist sein Debüt doch schon mehr als verheißungsvoll.
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