Das Bildnis der Baronin
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- Erschienen: Januar 2010
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- , 2009, Titel: 'Le Portrait', Originalausgabe
Geist und Wesen siedeln ins Portrait um
Kurzgefasst:
Im Herbst 1886 finden sich drei Rothschild-Brüder mit ihrer Schwester und einem Notar in einem Palais in Paris zusammen. Hier wird das Testament verlesen, in dem ihre vor einer Woche verstorbene Mutter genauestens festgelegt hat, wer was erbt, vom Jagdschloss über das Weingut bis zum Silberbesteck. Auf Wunsch der Geschwister findet das Zeremoniell in Gegenwart des Porträts statt, das der berühmte Ingres vor vierzig Jahren von ihrer Mutter gemalt hat und das Betty Rothschild als 40-Jährige zeigt. Was niemand - außer einem Bediensteten - ahnt: Bettys Geist, ihr Wesen, ihre Beobachtungskraft sind in das farbenprächtige Porträt übergegangen. Die Baronin ist tot, aber als Bild lebt sie weiter, hört und sieht alles, was rund um sie geschieht.
Betty Rothschild hatte noch die Armut des Judenghettos in Frankfurt, die Vorurteile in Wien durchlitten, bevor sie in Paris an der Seite des reichsten Bankiers zu einer Mäzenatin wurde. Sie knüpfte Freundschaften mit dem selbstironischen Rossini, dem undankbaren Balzac und dem hochsensiblen Chopin. Zu Heinrich Heine war ihr Verhältnis so eng, dass ihr eine Affäre mit dem ewig klammen deutschen Dichter nachgesagt wurde. Kein Wunder, denn Bettys Ehe wurde nicht im Namen der Liebe, sondern der Geldvermehrung geschlossen.
Der Name Rothschild verheißt Reichtum, Macht und Einfluss, er steht aber auch für Judenverfolgung und engverbundene Familienbande.
Paris im Jahr 1886. Betty de Rothschild, Baronesse James de Rothschild, ist gestorben und ihr Testament wird verlesen. Auf ihren Wusch hin geschieht dies vor dem Portrait, welches der Maler Ingres Jahrzehnte zuvor von ihr gemalt hat und sie im Alter von 40 Jahren zeigt. Was niemand ahnt: Betty ist zwar gestorben, aber ihr Geist und ihr Wesen sind in das Portrait übergegangen. So kann sie nach ihrem Tode die Trauer miterleben, mache Lästerei im Angesicht des Bildes anhören und am Leben der Familie weiter teilhaben. Schließlich reist das Portrait aufgrund testamentarischer Festlegung durch die verschiedenen Häuser der Familie und erleidet in späteren Jahren auch die Verbannung durch die Nazis. Alles wahrgenommen und kommentiert durch Bettys wachen Verstand im Bildnis. Auf diese Weise entsteht ein Zeugnis der familiären, gesellschaftlichen und politischen Geschehnisse des 19. und 20. Jahrhunderts. Betty erinnert sich an die frühen Jahre der Familie im Frankfurter Ghetto, die Vorurteile gegen die Juden in der Wiener Zeit, aber auch an den Aufstieg der Familie zu Reichtum und Ansehen. Möglich gemacht durch die Begründung eines einzigartigen Bankwesens, begünstigt durch den engen Familienverbund und Zusammenhalt. Im Haus der Rothschilds gehen die Könige und Fürsten der Zeit ein und aus, aber auch Künstler aller Couleur finden eine Heimat. Und alle erhalten finanzielle Hilfe und Unterstützung, so werden politische und künstlerische Karrieren gemacht und der Einfluss der Rothschilds nimmt stetig zu. Es entsteht ein einzigartiges Portrait einer großen, sehr verschwiegenen Familie.
Eigensinniger Stil fordert den Leser und wahrt Distanz
So interessant der eigensinnige Stil der Biografie von Assouline auch ist, so schwierig ist er aber auch für den Leser. Der Geist in Bettys Portrait erinnert sich nicht in chronologischer Reigenfolge der Ereignisse, sondern angeregt durch die Unterhaltung der Betrachter des Gemäldes in scheinbar willkürlicher Abfolge. Diese Art des Rückblicks auf das gelebte Leben entspricht sehr den menschlichen Erinnerungen, sie fordert den Leser allerdings auch heraus. So springen die Gedanken mal hierhin, mal dorthin und dem Leser fällt es schwer, einen roten Faden zu behalten. So bleiben auch die Charaktere der Protagonisten wie Erinnerungsfetzen eher blass. Die Betrachter des Bildes verweilen kurz im Raum oder vor dem Gemälde, und ebenso vorübergehend ist die Erinnerung an sie. Die handelnden Personen bleiben so zumeist schemenhaft und für den Leser nicht wirklich greifbar. Selbst Betty und Ihr Ehemann, James de Rothschild, werden nicht zu Vertrauten, sondern bleiben distanziert. Wobei diese Distanz wohl dem Wesen der sehr verschlossenen Familie entspricht und damit authentisch ist.
Gelebte Erinnerung und erdachte Geschichte
In den gelebten Erinnerungen der Betty de Rotschild breitet sich ein Portrait des 19. Jahrhunderts vor dem Auge des betrachtenden Lesers aus, in dem er auf Bekannte wie Chopin, Balzac und Heinrich Heine trifft. Aber auch die politischen Veränderungen zwischen Julirevolution und dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 finden ihren Eingang. Diese Erinnerungen sind sehr persönlich und geprägt durch die enge Verbindung der Ereignisse zur eigenen Familie. Totz allem bleiben sie verschleiert und wahren so die gewählte Distanz.
Die Ereignisse nach dem Tode Bettys werden als erdachte Geschichte ebenso authentisch erzählt, denn sie nimmt im Portrait verborgen an allen Ereignissen teil und ist somit Splitter der Geschichte. Sie erlebt die Deportation des Gemäldes nach Schloss Neuschwanstein und wird Teil der Beutekunst. Dies ermöglicht einen ganz eigenen, spannenden Blick auf die Ereignisse der Naziherrschaft. Die weitere erdachte Geschichte reicht bis in die Gegenwart. Das Portrait befindet sich noch immer im Privatbesitz der Familie.
Insgesamt ist eine sehr persönliche, aber doch immer distanzwahrende Biografie entstanden, die geschickt Dichtung und Wahrheit verbindet. Und auf diese Weise ein sehr eigenwilliges, aber interessantes Portrait des französischen Zweiges der Familie Rothschild zeigt.
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