Wiegenlied
- Diana
- Erschienen: Januar 2010
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- Diana, 2010, Titel: 'Wiegenlied', Originalausgabe
Der Entstehung des Kindbettfiebers auf der Spur
Kurzgefasst:
Berlin 1828: Der jungen Hebamme Helene gelingt das Unmögliche, als man sie an der Charité heimlich Medizin studieren lässt. Doch damit ruft sie auch Gegner auf den Plan. Als eine plötzliche Serie von Abtreibungen mit tödlichem Ausgang in den Berliner Bordellen für Aufruhr sorgt, richtet sich der Verdacht schnell gegen Helene. Und tatsächlich hat sie sich schuldig gemacht - doch anders als ihre Gegner denken...
Helene zieht es nach Berlin, wo sie Medizin studieren will, wohl wissend, dass die Universität für Frauen kaum zugänglich ist. Um ihre ehrgeizigen Pläne nicht zu gefährden, verweigert sie ihrer Schwester Elsa, die als Schauspielerin Erfolge am Königlichen Hoftheater feiert, die erbetene Abtreibung. Sie bereut es bald, denn Elsa sucht in den dunklen Winkeln Berlins Hilfe, was sie beinahe das Leben kostet. Wenig später gibt Helene daher dem Wunsch ihrer Schwester nach, einer Unbekannten von offenbar hohem Stand bei der heimlichen Geburt ihres Kindes behilflich zu sein. Helene wählt eine junge Hure aus der Charité als Amme. Eine tödliche Gefahr für alle...
Historische Romane, in denen eine Hebamme im Zentrum steht, gibt es viele. Auch Kerstin Cantz hat mit Die Hebamme bereits ein Buch zu diesem Thema vorgelegt. Wiegenlied ist nun die Fortsetzung des Romans, mit dem sich die Autorin Aufmerksamkeit verschafft hat. Tatsächlich ist Gesas zweite Tochter Helene in die Fussstapfen ihrer Mutter und ihres Vaters, dem Arzt Clemens Heuser, getreten. Für eine junge Frau im 18. Jahrhundert greift Helene nach den Sternen: Sie möchte Medizin studieren. Doch ein richtiges Studium ist den Frauen verwehrt. Durch die Hilfe ihres Vaters schafft es Helene, an die Charité in Berlin angenommen zu werden, wo sie Privatunterricht erhält. Auch Helenes ältere Schwester Elsa will hoch hinaus: Sie träumt von einer Karriere als Schauspielerin. Um ihren Traum zu verwirklichen, geht Elsa unkonventionelle Wege. Als sie schwanger wird, bittet sie ihre Schwester um Hilfe. Damit stürzt sie Helene in tiefe Gewissensnot.
Eindringlich erzählt
Kerstin Cantz legt auch dieses Mal nicht einfach einen Hebammenroman mit strahlender Heldin und einem Touch Mystik vor. Die Geschichte, die sie rund um Helene gesponnen hat, taucht tief in die medizinische Entwicklung der Zeit um 1830 ein. Verzweifelt versuchen die Ärzte, dem Kindbettfieber auf die Spur zu kommen. Gleichzeitig müssen sie sich mit den Folgen missglückter Abtreibungen beschäftigen. Etliche Prostituierte verlieren dabei ihr Leben. Die Situation, in der sich die schwangeren Frauen befinden, wird eindringlich geschildert und man könnte fast meinen, den fauligen Gestank der Sezierräume zu riechen. Kerstin Cantz schont ihre Leser nicht. Sie lässt die Ärzte im Dunkeln tappen und den jungen Müttern unwissentlich den Tod bringen. Sie lässt aber auch Schmutz, Elend, Gewalt und Verzweiflung ein Gesicht bekommen, das sich als bedrückende Maske über das Geschehen legt.
Naive Protagonistin
Während der medizinische Teil von der Thematik wie von der Erzählweise her vollständig überzeugt, können dies weder Helene noch Elsa. Die zielstrebige Elsa, die ohne weiteres bereit ist, ihre Schwester unter moralischen Druck zu setzen oder andere Leute auszunutzen, vermag nicht so recht zu einer Sympathieträgerin zu avancieren. Doch auch Helene gelingt dies nicht besser. Die Autorin zeichnet ihre Protagonistin einerseits als zielstrebige, junge Frau. Andererseits ist Helene in einer Art naiv, die sie nicht besonders liebenswürdig sondern töricht erscheinen lässt. Im Verhältnis der Schwestern zueinander schleicht sich auch ein gewisses Unbehagen ein. Denn zunächst weist Helene das Ansinnen ihrer Schwester mit moralischer Entrüstung ab, dann beweint sie den Umstand, ihre Schwester im Stich gelassen zu haben, ohne aber ihre eigenen Moralvorstellungen beziehungsweise ihre Berufsethik in Frage zu stellen. Als sie sich zur "Wiedergutmachung" auf einen höchst sonderbaren Handel einlässt, der klar gegen ihre Berufsehre verstösst, mag man als Leser Helene nicht mehr so richtig ernst nehmen.
Ein wenig Liebe
Natürlich gehört zum Wiegenlied auch eine Portion Liebe. Diese ist jedoch für beide Schwestern nicht ganz so zuckersüss. Elsa spielt - ganz die angehende Diva - eher mit ihren Verehrern, die schüchterne Helene braucht eine geraume Zeit, bis sie sich offenbart. Und dabei gleich das Gefühl bekommt, es könnte gegenüber dem Falschen gewesen sein. Die Liebeswehen der beiden ungleichen Schwestern sind jedoch auf jeden Fall unterhaltend. Ganz anders die dubiose Persönlichkeit, die sich wie ein dunkler Schatten durch die Geschichte schleicht und einer krankhaften Verehrung der bereits verstorbenen Königin Luise huldigt. Der Roman brauchte diese dunkle Gestalt nicht, um zu überzeugen. Im Gegenteil. Hier entsteht eher der Eindruck von etwas Bemühtem, Unechtem. Die Atmosphäre in der Charité wie auch im Hurenviertel ist düster genug, um gut auf diese dubiose Gestalt als weiteres Stilelement verzichten zu können.
Zu glatter Ausstieg
Überzeugt die Autorin während des Romans auf weiten Strecken, kommt gegen Ende des Buches das Gefühl auf, entweder eine stark gekürzte Fassung in Händen zu halten oder ein Werk, das auf einen Termin hin fertig gestellt werden musste, ohne dass die Geschichte auch wirklich zu Ende erzählt gewesen wäre. Das ist höchst bedauerlich, und nimmt dem Buch etwas von seinem Reiz.
Alles in Allem legt Kerstin Cantz einen guten historischen Roman vor, der Leserinnen und Leser ansprechen dürfte, die Wert auf eine Geschichte mit thematischem Tiefgang haben. Dass die Protagonistinnen hier etwas quer in der Landschaft stehen, tut diesem keinen Abbruch. Aber gleichzeitig wird Wiegenlied vor dem Blick einer kritischen Leserschaft nur bedingt Stand halten können.
Kerstin Cantz, Diana
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