Die Insel des vorigen Tages
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- Erschienen: Januar 1994
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- , 1994, Titel: 'L´isola del giorno prima', Originalausgabe
Auf der Suche nach dem Nullmeridian
Dennoch sieht Roberto in dem Fremden seinen Schicksalsgenossen. Von seinem Versuch, zu der Insel des vorigen Tages, die östlich der Datumsgrenze liegt, zu gelangen, kehrt der Fremde jedoch nicht mehr zurück. In seiner Verlassenheit beginnt Roberto sich einen Roman auszudenken, in dem sich Wahn und Wirklichkeit immer mehr vermischen. Dies führt zu einer waghalsigen Entscheidung&
Im Sommer des Jahres 1643 treibt der dreißigjährige Roberto de La Grive, ein junger Aristokrat aus Piemont, auf dem manövrierunfähigen und mit Lebensmitteln gefüllten Schiff "Daphne" nahe einer Insel in der Südsee. Der Nichtschwimmer ist schiffbrüchig und verbringt seine Zeit mit der Erstellung unvollständiger Aufzeichnungen und mit pathetischen Briefen an Signora Lilia, die er aus der Ferne verehrt. Roberto hat einen Geheimauftrag der französischen Regierung, erteilt von Kardinal Mazarin: er soll den Nullmeridian ausfindig machen, mit dem sich die Längengrade einwandfrei bestimmen und Schiffe exakt navigieren lassen. Bald merkt er, dass sich noch jemand auf dem Schiff aufhält, sich jedoch vor ihm versteckt. Als sie aufeinander treffen, erfährt Roberto, dass sein Gegenüber, Pater Caspar Wanderdrossel, den gleichen Auftrag hat wie er. Caspar, ebenfalls Nichtschwimmer, erzählt Roberto, die Besatzung der Daphne sei nach ihrer Ankunft auf der Insel von Wilden getötet worden. Robertos Versuche, das Schwimmen zu erlernen, schlagen fehl. Caspar erinnert sich an die Zeichnung einer Taucherglocke, die er in einem Buch gesehen hat. Die Männer bauen eine solche Glocke, mit der Caspar auf dem Meeresboden zur Insel gehen will. Doch Caspar verschwindet bei diesem Versuch und taucht nicht wieder auf. Roberto macht sich daran, einen Roman über Ferrante und dessen Liebesbeziehung mit Lilia zu schreiben. Ferrante ist der Doppelgänger und böse Halbbruder Robertos, eine Wahnvorstellung.
Ein vielschichtig gebauter Roman
Die Herausgeberfiktion, in der der Autor eines Werkes vorgibt, es gebe in der von ihm geschaffenen Welt eine Person, die ein Manuskript oder Briefe gefunden habe, ist ein recht alter literarischer Topos, wurde im Barock gedreht und gewendet, bis er kaum noch Entwicklungsmöglichkeiten bot. Auch die Gegenwartsliteratur verwendet ihn noch bisweilen, mit am interessantesten geschieht dies bei Umberto Eco.
Der Autor, ein nicht weiter spezifizierter Gelehrter und Ich-Erzähler, arbeitet sich durch arg mitgenommene Papiere, gibt Robertos Geschichte wieder und versieht sie teils mit Anmerkungen und Interpretationen. Ergänzend hinzu kommen ein auktorialer Erzähler, der anreichernd mit Dialogen und Beschreibungen arbeitet, sowie Roberto, mal durch Zitate, dann durch eine schwer auszumachende Verschmelzung aus ihm und dem Ich-Erzähler, der sich in Roberto hineindenkt und -fühlt. Er gibt vor, auch Robertos Träume zu kennen.
Wie viele historische Romane spielt auch Die Insel des vorigen Tages auf zwei Zeitebenen. Diese verbindet Eco nicht nur geschickt miteinander, sie beeinflussen sich auch gegenseitig. Roberto und seine Zeit liegen in der Vergangenheit, die Briefe sind auf unbestimmte Weise in den Besitz des Erzählers gelangt. Das sich hieraus ergebende Wechselspiel erfolgt zumeist kapitelweise und unter Verwendung barocken sowie sachlichen Stils. Schließlich ist das Material Grundlage für einen Roman. Ecos Buch ist komplex, arbeitet mit Robertos Briefen, mit Rückblicken, mit Reflexionen, in denen bisweilen der Gang der Handlung relativiert wird, indem den Lesern andere Möglichkeiten für die Handlungsentwicklung vorgeschlagen werden.
Ecos Roman und die äußere Welt
Ein Thema in Ecos Werk ist die Beziehung zwischen dem Autor und dem Leser. In Die Insel des vorigen Tages wendet sich der Autor wiederholt an den Leser und äußert sich zu den Vorteilen der Erzählung. In deren Verlauf verschwimmt die Grenze zwischen dem Gelehrten, der das Buch schreibt, welches uns Eco vorgelegt hat, und den Aufzeichnungen Robertos. Gleichzeitig verwischt die Grenze zwischen der Realität der Erzählung und der Fiktion der Erzählung sowie der Realität des Autors Eco, indem reale Werke zum Bezugspunkt der Erzählung werden.
Ecos Roman wimmelt in den Kapitelüberschriften wie auch der Erzählung von Verweisen auf andere Werke und Autoren, vornehmlich des Barock. So entspricht die Überschrift des siebten Kapitels, "Pavane Lachryme", dem Titel einer Komposition des niederländischen Musikers Jacob van Eyck aus dessen Werk Der Fluyten Lust-Hof. Baltasar Gracián y Morales und dessen Handorakel und die Kunst der Weltklugheit adressiert Eco im elften Kapitel. Das zwölfte Kapitel ist überschrieben mit Die Leidenschaften der Seele, dem Titel des letzten Werks von René Descartes, in dem der Philosoph seine Affektenlehre entwickelt.
Im sechzehnten Kapitel bezieht sich Eco u.a. auf Rudolf Goclenius den Jüngeren (d.i. Rudolph Göckel) und dessen Gedanken zum sympathetischen Pulver (Waffensalbe), das im siebzehnten Jahrhundert Gegenstand umfassender Diskussionen war, auch der zur Bestimmung des Längengrades auf See. Der Engländer Kenelm Digby schlug in seiner Schrift Curious Enquiries von 1687 vor, den Längengrad auf See unter Verwendung des sympathetischen Pulvers zu bestimmen, indem ein Hund mit einem Messer verletzt wird und auf einem Schiff mitfährt. Jeden Mittag soll im Heimathafen sympathetisches Pulver auf das Messer aufgetragen werden. Der Hund gibt in diesem Moment Schmerzenslaute von sich, und der Kapitän weiß, wie spät es im Heimathafen ist. In Ecos Roman wird eine Variante dieser Versuchsanordnung durchgeführt.
Eco spielt auch auf einen seiner Lieblingsschriftsteller an, Alexandre Dumas. Die Pariser Szenen des Romans lassen Ecos Gefallen an Die drei Musketiere und Der Mann mit der eisernen Maske erkennen. Hier kommen historische Figuren, so die Kardinäle Richelieu und Mazarin, mit fiktionalen zusammen, wie einem 17-jährigen Entwickler einer Rechenmaschine.
Eco erzählt eine Geschichte, die knapp gehalten ist und so den Weg frei hält für Abschweifungen, philosophische Gedanken bis hin zum Denken von Steinen und dem Aberglauben von Menschen. Wir erfahren einiges über seltsame Erfindungen der Barockzeit. Häufig enthalten Bücher am Ende ein Kolophon, einen Text, der über Aspekte ihrer Produktion informiert. Dies können Angaben zum Auftraggeber sein, Ausführungen zur verwendeten Schrift und vieles mehr. Eco macht das Kolophon auf interessante Weise zum letzten Kapitel seines Buches: der äußere Autor, der Ich-Erzähler, geht auf Rahmenbedingungen seiner Arbeit ein, stellt Mutmaßungen an, diskutiert Hypothesen zum weiteren Gang der Erzählung.
Die Bewegung der Erzählung gleicht der des Schiffes: beide sind sehr langsam. Robertos Erzählung treibt, der äußere Erzähler hat die Kontrolle über das Material, wirkt wie der Wind, ist manchmal still, ändert bisweilen die Richtung, scheint aber einen grundsätzlichen Kurs zu haben.
Aber anders als langsam lesend erleidet man in Ecos Buch Schiffbruch. Einem Buch, das intellektuell unterhaltsam ist und bisweilen absurd komisch.
Umberto Eco, -
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