Das letzte Kapitel
- Lübbe
- Erschienen: Januar 2011
- 1
- Lübbe, 2009, Titel: 'The Last Dickens', Originalausgabe
Zähflüssig wie das Waten durch Schlamm
Kurzgefasst:
Boston, 1870. Sylvanus Bendall eilt durch die engen Gassen des heruntergekommenen Stadtviertels New Land. Im fahlen Licht der Dämmerung wirkt der Nebel wie ein Leichentuch. Immer wieder dreht der Anwalt sich um und lauscht. Der Verfolger kommt näher. Bendall beschleunigt seine Schritte - vergeblich. Sein Blick fällt auf den Knauf eines Gehstocks, der wie ein Bestienkopf aussieht. Reißzähne blitzen auf. Bendall ahnt, was der Unbekannte mit den schwarzen Augen von ihm will: das Papierbündel in seiner Westentasche - die letzten unveröffentlichten Seiten aus der Feder des kürzlich verstorbenen Charles Dickens. Sie bergen ein dunkles Geheimnis - und jeder, der es kennt, muss sterben.
Wo sind die letzten Seiten von Charles Dickens jüngstem Roman geblieben? James Ripley Osgood, Partner eines Verlags in Boston, muss erkennen, dass das sehnlich erwartete Manuskript verschwunden ist. Der Bote, der den Packen im Hafen abholen sollte, scheint infolge seines Opiummissbrauchs auf dem Weg in den Verlag verunfallt. Noch ahnen der junge Verleger und sein älterer Partner, Mr. Fields, nicht, dass hinter dem Verschwinden namhafte Interessen stehen. Für das Verlagshaus könnte der Verlust weitreichende Folgen haben, stellen doch die Dickens-Romane eine der wesentlichen Einnahmen-Quellen dar. Und jetzt, unmittelbar nach Dickens Tod, ist alles in Frage gestellt.
Kampf gegen die Längen
So interessant sich das Thema auch anhört - dieser historische Krimi ist alles andere als eine leichtfüßige Spannungslektüre. Zunächst sieht man sich mit einer Szene aus Bengalen konfrontiert, deren Verbindung zu den Büchern von Charles Dickens nicht erkennbar ist. Dieser Erzählstrang erklärt sich zwar im weiteren Verlauf des Romans, doch er vermag weder zu fesseln noch zu überzeugen. Bis zuletzt stellt sich die Frage, ob dieser Bereich nicht einfach hätte weggelassen werden können, auch wenn er einige durchaus interessante Aspekte des Zusammenlebens von Bengalen und Engländern aufzeigt.
So wendet man sich zunächst voller Hoffnung dem Hauptstrang zu, der 1870 an einem düsteren Tag in Boston seinen Anfang nimmt. Wer nun gehofft hat, dass die Geschichte hier an Tempo aufnimmt, sieht sich aber schon nach wenigen Sätzen getäuscht. Dröge Gespräche, in die eine geballte Ladung "versteckter" Erklärung verpackt ist, ziehen sich über die Seiten. Hier und da flackert zwar etwas an Stimmung auf, wird aber durch die zähflüssige Sprache gleich wieder in ihre Schranken gewiesen. Immer wieder bekommt man den Eindruck, dass sich Matthew Pearl selber nicht ganz sicher ist, was er wirklich erzählen möchte und wohin sein Roman führen soll.
Schwerfällige Charaktere
Der Autor Matthew Pearl verliert sich in den ausufernden Beschreibungen seiner Charaktere und macht diese damit zu schwerfälligen Protagonisten, die dem Leser als unverdaulicher Klumpen im Magen liegen. Die Abschweifungen in den Hintergrund der jeweiligen Person führt auch dazu, dass die Geschichte keinerlei Fahrt aufnehmen kann, jede atmosphärische Szene gleich wieder durch ellenlange und wenig aufregende Erklärungen zunichte gemacht wird. So mögen sich zwar in den Schilderungen durchaus interessante Ansätze verbergen, doch verliert man allzu bald die Lust dazu, diese auf sich wirken zu lassen.
Weder der junge Mister Osgood noch seine bezaubernde Sekretärin Rebecca Sand wachsen dem Leser wirklich ans Herz. Nicht einmal der große Autor Charles Dickens vermag es, sich in diesem Roman über ein unteres Mittelmass an Sympathie hinaus zu bewegen. Dazu sind die Episoden, in denen der Meister der Feder auftritt, zu unspektakulär und langweilig. Dies, obwohl wohl gerade hier hätten zusätzliche Spannungsmomente eingebracht werden sollen.
Stimmung einfangen?
Es bleibt bis zuletzt ein Rätsel, was genau der Autor mit diesem Roman aussagen wollte. Einerseits könnte es eine Hommage an den großen Charles Dickens sein, die ihm vorgeschwebt hatte, andererseits könnte es auch ein Roman sein, der zum Ziel hatte, den Exzentriker Dickens zu entlarven. Es könnte ebenso ein (wenig geglückter) Versuch sein, die Stimmung in den Dickens-Büchern nachzuzeichnen. Was auch immer die Grundlage für diesen Roman war, das Ziel, eine breite Leserschaft damit zu unterhalten, wird nicht erreicht. Dazu ist man zu oft versucht, die Lektüre abzubrechen und sich von diesen düsteren, zähflüssigen Schilderungen zu befreien. Wer die Lektüre durchhält, wird allenfalls im letzten Teil noch durch ein paar temporeichere und gar einigermaßen originelle Momente belohnt.
Das letzte Kapitel dürfte für eingefleischte Dickens-Fans ein Muss sein. Wer aber einen spannenden, historischen Roman oder Krimi lesen möchte, verzichtet besser auf dieses Buch. Denn da dürfte die Enttäuschung vorprogrammiert sein.
Matthew Pearl, Lübbe
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