Der Virtuose
- dtv
- Erschienen: Januar 1994
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- dtv, 1993, Titel: 'De virtuoos', Originalausgabe
Eine Kastratenkarriere mit Höhen und Tiefen
Kurzgefasst:
Neapel zu Beginn des 18. Jahrhunderts - die Stadt des Belcanto zieht die junge Contessa Carlotta magisch an. In der Opernloge gibt sie sich, aller Erdenschwere entrückt, einer zauberischen Stimme hin: Es ist die Stimme Gasparo Contis, eines faszinierend schönen Kastraten. Carlotta verführt den in der Liebe Unerfahrenen nach allen Egeln der Kunst. Es folgen rauschhafte Wochen voll Musik und erotischem Rafinement. Das Glück, erkennt sie, ist wie die Musik: Es ist da und bald wieder fort. Ein Narr, wer es festhalten wollte...
Zu Beginn des 18. Jahrhunderts wird die Contessa Carlotta für einen Winter lang nach Neapel gelassen, um dort die Opernsaison zu verbringen. Ohne ihren Mann und ihre zwei Töchter verliebt sich die junge Frau gleich am ersten Abend in der Oper in den Sopranisten Gasparo Conti, genannt Gasparino. Sie wird ihm von ihrer Schwester gleich nach der Vorstellung vorgestellt, und sie stellen fest, dass beide im selben Dorf aufgewachsen sind.
Es entspinnt sich eine Liebesbeziehung zwischen ihr und dem Kastraten Gasparo, der von ihr in das Liebesspiel eingeführt wird und die sich ihm ganz hingibt. In diesem halben Jahr erfährt sie viel über seinen Werdegang und sein Leben, seine Kastration, seine Karriere bis hin zu den Zwischenstationen in London beim Komponisten Georg Friedrich Händel. Doch am Ende hat er einen Schüler, dem er nach Rom folgt, und er und Carlotta trennen sich für immer, denn ihre Saison in Neapel ist vorbei.
Bunt und künstlich zugleich
Die niederländische Autorin Margriet de Moor entführt ihre Leser auf knapp 190 Seiten in eine Welt, die auf der einen Seite faszinierend und bunt, auf der anderen Seite aber auch falsch, künstlich und langweilig ist. Schein und Sein geben sich hier die Klinke in die Hand, dargestellt anhand der Lebensgeschichte eines Kastraten.
Carlotta erzählt aus ihrer Ich-Perspektive, wie sie Gasparo kennerlernt und lässt ihn immer wieder sein Leben erzählen, von der Kindheit, endend mit der Kastration bis hin zu ersten Gesangsstationen, dem Unterricht und dem ersten Bühnenauftritt in Rom, wo er bereits begeisternd und ruhig den alteingesessen Sängern gezeigt hat, dass er sich durch nichts aus der Ruhe bringen lässt. Das ist spannend und flüssig erzählt, und auch die Episoden in England gehören zu den Höhepunkten des Romans.
Zwischendurch jedoch kann die Autorin die Spannung nur mit Mühe halten. Nicht immer gelingt ihr der Übergang vom einen Handlungsabschnitt in den nächsten. Meist ist dieser mit einer gehörigen Portion Erotik gespickt, die allerdings immer recht sinnlich und nie wirklich pornographisch daherkommt. Trotz aller Bemühungen, das Schema gleicht sich doch ein ums andere Mal, und man sehnt sich den nächsten Abschnitt herbei, wo man raus aus den Betten wieder mehr Handlung hat.
Virtuose Sprache
Sprachlich bewegt sich die Autorin durchaus virtuos und versteht es, die musikalischen Geschehnisse auf der Bühne in Worte zu fassen. So berichtet sie von seiner Premiere als Königin von Karthago in Rom:
"Das a , mit dem die Königin von Karthago ihre uralte Klage anstimmt, war das längste und reinste, das er je gesungen hatte. Die Leute hörten auf zu denken. Sie spürten ihr eigenes Lächeln nicht mehr, und viele konnten kaum noch glauben, dass die Zeit weiterlief und dass in einem bestimmten Augenblick der Tod auf sie wartete. Das Lied sank in ungewöhnlich weit geöffnete Herzen. Alle Übellaunigkeit verschwand daraus, als man die Stimme und die Erscheinung einer Geliebten in sich aufsog, die keine Frau war, aber - viel überzeugender, viel perfekter - durch und durch eine Frau darstellte."
Die Autorin versteht es, den Lesern das Theatergeschehen der Zeit näherzubringen, mit seinen Konkurrenzen, seinen Problemen und seinen kleinen Tricks auf der Bühne. Sie schlägt ebenso verbal die Zeit tot, wie die Menschen es seinerzeit getan haben, sei es auf Kutschfahrten oder nur, wie man auf den nächsten Opernabend wartet und ihm entgegenfiebert. Die ganze Langweiligkeit wird dem Leser durch Carlottas Ich-Perspektive noch näher gebracht, ohne allerdings wirklich langweilig zu sein. Auch das ist eine Kunst, die nicht jeder Autor beherrscht: Langeweile beschreiben ohne langweilig zu sein.
Körperliche Nähe statt geistiger
Trotz aller Liebe zu Gasparo bleibt sein Charakter durch ihre Beschreibung dennoch fremd und kalt. Auch wenn seine Stimme und sein Sängerdasein in ihr höchste Wallungen und Gefühle hervorlockt, so schimmert doch durch, dass er nicht dasselbe für sie fühlt, wie sie für ihn. Mit dem Wissen, dass es nur für einen Winter ist, und man ja mit einem Kastraten als Geliebten nicht viel falsch machen kann (im Gegenteil - wer sich einen Kastraten als Geliebten hielt, war hoch angesehen), leben die beiden ihre Beziehung, bis Giuseppe, Gasparos Schüler, in beider Leben tritt und innerhalb von nur vier Wochen seinen Meister überflügeln wird. Carlotta merkt, dass Gasparo dies akzeptiert, und doch schmerzt es sie. Wirklich nahe sind sich sie und Gasparo nur körperlich, nicht aber geistig.
Einziger Fehler in der Übersetzung (der aber ständig) ist, dass die deutsche Sprache die Tonart Bes-Dur nicht kennt. Der deutschsprachige Raum ist der einzige, der die Note h kennt, alle anderen bezeichnen ihn als si oder b, und so heisst die Tonart H-Dur = B-Dur und B-Dur wäre Bes-Dur. Verwirrend und für Nicht-Musiker auch nicht wichtig und letztlich ein Übersetzungsproblem, aber dennoch etwas ärgerlich.
Margriet de Moors wohl bekanntester Roman zeigt einen entlarvenden Blick in die Zeit der Kastraten und die Falschheit und Langweiligkeit des oberen Standes. Dass sie nicht immer die Spannung halten kann, tut der Stimmung im Buch keinen Abbruch, und wer einen trotz allem sinnlichen und zudem lehrreichen Roman lesen möchte, gepaart mit ein wenig Erotik und viel Musik, der wird mit Der Virtuose einen guten Griff tun.
Margriet de Moor, dtv
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