Der Kastrat
- DuMont
- Erschienen: Januar 2011
- 3
- DuMont, 2010, Titel: 'The Bells', Originalausgabe
Ein Genuss für alle Sinne
Kurzgefasst:
Hoch in den Alpen erblickt Moses Froben am Anfang des 18. Jahrhunderts als uneheliches Kind das Licht der Welt. Der Dorfpfarrer muss fürchten, als Vater entlarvt zu werden, und stößt den Jungen in einen Sturzbach. Moses wird gerettet und kommt in die Abtei St. Gallen, wo er zum Meistersänger des Chores heranreift. Dann geschieht das Ungeheuerliche: Man kastriert ihn, damit seine Engelsstimme erhalten bleibt. Und Moses feiert Erfolge auf Europas Bühnen. Aber ein Geheimnis bleibt: Wie kam der weltbekannte Kastrat zu einem Sohn?
Zu Beginn des 18. Jahrhunderts wird Moses Froben als uneheliches Kind in einem kleinen schweizer Bergdorf geboren. Seine Mutter ist taub und bedient die Glocken des Kirchturms, wo Moses auch aufwächst. Er nimmt sämtliche Schwingungen wahr und bekommt so ein sehr feines und ausgeklügeltes Gehör, was für ihn ein normales Erlebnis darstellt.
Vom Pastor in Rage in einen Fluss geworfen, wird er von den Mönchen Nicolai und Remus gerettet und kommt im Kloster in St. Gallen unter, wo er die Musik kennerlernt und bald alle mit seiner schönen Stimme beeindruckt. Als der Chorleiter ihn kastrieren lässt, weiß er nicht, was mit ihm gemacht wird, er entdeckt nur im Laufe der Zeit, dass an ihm einiges anders ist als bei anderen Jungen im Wachstum.
Als der Abt davon Wind bekommt, verjagt er die beiden aufständischen Nicolai und Remus, und später verlässt auch Moses die Abtei. Er geht nach Wien und lernt dort das Theater und den Komponisten Christoph Willibald Gluck kennen. Auf der Suche nach seiner großen Jugendliebe Amalia, die inzwischen einen anderen geheiratet hat, stürzt er sich mit seinen Helfern in ein großes Abenteuer um die Liebe und die Musik, das mit einem furiosen Finale endet.
Mitreissender Erzählstil
Richard Harvell ist mit seinem Roman Der Kastrat ein beeindruckendes Werk gelungen, das sprichwörtlich alle Sinne anspricht. Dabei schafft er es, sich selber keine erzählerischen Fallen zu Stellen, in die er später hineintappen könnte und legt so einen Roman wie aus einem Guss vor. Sein Erzählstil ist mitreißend und emotional, aber nicht kitschig, obwohl er Roman aus der Ich-Perspektive geschrieben ist. Der Einstieg in sein Leben als durch seine Herkunft benachteiligtes Kind ist geschickt gewählt, da es ihn unwissend in das große Leben treiben wird. Moses ist nicht dumm, er kennt nur viele Dinge nicht und kann auch oftmals keine Zusammenhänge feststellen. Aber das wird sich ändern.
Die Erzählung aus seiner Sicht lässt auch seine Mitprotagonisten bunter erscheinen als in manch anderen Romanen. Gerade seine beiden Mönchsfreunde Remus und Nicolai, die im Orden nicht gern gesehen, sondern nur geduldet sind, begleiten ihn durch sein Leben durch dick und dünn und geben ihm auch in schwierigsten Situationen Halt. Seine Liebe aus Kindertagen Amalia ist zentraler Ansporn seines Tuns, zumal auch sie durch ein hinkendes Bein eine Art Außenseiterin ist und sich die beiden daher gut als Verbündete verstehen.
Gelungene Übertragung von Musik in den Roman
Als Moses in Wien den Komponisten Gluck kennen lernt, der heutzutage eher ein ungerechtfertigtes Randdasein in der klassischen Musik durchlebt, ändert sich sein Leben am Rande der Existenz in ein sorgenfreieres. Er lernt den Kastraten Gaetano Guadagni kennen und wird sein neuer Schüler, als der er nun gewissermaßen ausgesorgt hat. Doch als er ihn zu überflügeln droht, besteht die Gefahr, sich einen Feind zu machen, den er nicht will, und so steckt er in einer Zwickmühle. Hinzu kommt, dass die zwangsverheiratete Amalia ein Kind erwartet, was Moses nur schwer akzeptieren kann.
Als zartbesaiteter Kastrat kämpft er sich durchs Leben, was von Richard Harvell gut und glaubwürdig dargestellt wird. Er schafft eine glaubwürdige Atmosphäre, in der man sich als Leser immer wohl fühlt, da das ganze Gefüge in sich stimmig ist und die 480 wie im Flug weglesen lässt. Dass er dabei den Drahtseilakt schafft, das akustische Phänomen Musik in Schriftform zu übertragen, ist ein hohe Kunst, die nicht jeder beherrscht. Besonders beeindruckend ist die Szene, wo Moses seinen Freunden eine Arie vorsingt, ohne Begleitung und in einem kleinen Raum, und obwohl man es nur liest, kommen einem als Leser Tränen in die Augen. Das ist tatsächlich großes Kopfkino.
Vorteilhaft für die Intensität des Romans ist auch, dass sich Moses nicht lästiges Wehklagen ob seiner Männlichkeit ergibt, sondern er nimmt sein Leben in die Hand. Das Lamentieren entfällt beziehungsweise hält sich in erträglichem Rahmen, und so konzentriert sich der Autor auf seine lesenswerte Geschichte. Kein unnötiges Geschwafel, sondern Stimmung durch Handlung.
Ein literarischer Ohrenschmaus
"Macht mit den Ohren, was "Das Parfüm" mit der Nase gemacht hat", steht auf dem Cover des Taschenbuchs, und dieses zunächst übertrieben scheinende Prädikat kann nur bejaht werden, wenn nicht sogar derart, dass "Der Kastrat" den Leser noch mehr rührt, als es Das Parfüm getan hat, geht es doch hier um die Musik und die Liebe und nicht um einen Mörder.
Es gibt Bücher, bei denen man sich ärgert, dass man sie so lange hat liegen lassen, ohne sie zu lesen. Der Kastrat von Richard Harvell ist so ein Buch, und es kann ohne Zögern zu den Highlights des Jahres gezählt werden.
Ein kurzer Anhang erklärt einige Dinge und rückt sie ins historische Licht. Den Kastraten Guadagni gab es wirklich, doch konnte er nie die in ihn gesetzten Erwartungen erfüllen. Chistoph Willibald Gluck wurde hier ein kleines, verdientes literarisches Denkmal gesetzt, was besonders Freunde der Musik begeistern wird.
Man muss kein Musiker sein, um von diesem Buch gefangen genommen zu werden und sich von ihm bezaubern zu lassen. Dieser Roman ist ein Genuss für alle Sinne. Lobenswert und empfehlenswert.
Richard Harvell, DuMont
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