Das Totendorf
- Heyne
- Erschienen: Januar 2012
- 4
- Heyne, 2012, Titel: 'Das Totendorf', Originalausgabe
Fesselndes magisch-mystisches Historienabenteuer
Kurzgefasst:
Ein Dorf im Harz, 1729. Seit einigen Jahren versetzen seltsame Todesfälle und unerklärlicher Wahnsinn die Einwohner in Angst und Schrecken. Das junge Dienstmädchen Ida und die Nonne Johanna sitzen nach einem Unfall im Dorf fest. Johanna findet schließlich heraus, dass der Ursprung der Vorfälle beim mythischen Wesen Lugus liegt, der germanischen Gottheit des Chaos. Doch ihr bleibt nur wenig Zeit: Von Tag zu Tag werden die Dorfbewohner misstrauischer, und schließlich beginnt eine mörderische Hexenjagd...
Berlin, 1729: Der junge Leutnant Robert Collas erhält von Preußenkönig Friedrich Wilhelm einen brisanten Auftrag. Im einsamen Örtchen Ödrode mitten im Harz geschehen seit sechs Jahren seltsame Dinge. Dorfbewohner verschwinden spurlos, andere werden wahnsinnig und begehen Selbstmord oder töten scheinbar grundlos andere Einwohner. Robert Collas soll die Ursache klären und in dem abgelegenen Ort für Ordnung sorgen. Auf dem Weg dorthin trifft Robert eine Kutsche, die aufgrund eines Schadens liegen geblieben ist. Die Fahrgäste sind das junge Dienstmädchen Ida, der junge Student Benedikt Pohl, die wohlhabende und ordinäre Sophie Ruhleben und eine Nonne mittleren Alters, Schwester Johanna.
Die Fahrgäste werden von Robert und seinen vier Rekruten nach Ödrode gebracht, um dort auf die Weiterfahrt zu warten. Schon bald stellt Robert fest, dass Schwester Johanna das gleiche Ziel hat wie er: Die sehr belesene Frau hat ein großes Interesse an übernatürlichen Phänomenen und will ebenfalls das Rätsel um die mysteriösen Vorfälle lösen.
Kurz nach der Ankunft erleben die Dorfgäste auch schon hautnah einen weiteren Wahnsinsfall, als eine Frau während der Messe einen Mann mit dem Messer angreift. Anfangs glauben Johanna und Robert noch an eine natürliche Ursache wie vergiftetes Wasser. Doch schon bald ist ihnen klar, dass sie es mit der Macht eines germanischen Wesens zu tun haben, das das ganze Dorf in Chaos und Zerstörung legen will. Alles hat seinen Ursprung in einem tausend Jahre alten Fluch ...
Der Lugus geht um
Als eine äußerst gelungene Mischung aus historischer Kulisse und nordischer Mythologie präsentiert sich Das Totendorf, das den Leser von Beginn an fesselt. Das einsame Dorf trägt seinen gruseligen Spitznamen zu Recht, denn alle Bewohner erscheinen durch die schrecklichen Vorfälle teilnahmslos und der Verzweiflung nah. Das Auftauchen des Leutnants und seiner Männer gibt leise Hoffnung für die Einwohner, dass ihnen jemand bei diesen unerklärlichen Ereignissen beisteht. Wie nötig das ist, zeigt sich ausgerechnet in der Messe. Aus heiterem Himmel zückt eine Frau ein Messer, verletzt eine Greisin und geht auf den Schustermeister Michael los, ehe sie mit Mühe gebändigt und gefangen genommen wird. Ein erkennbares Schema gibt es nicht, jeder scheint gefährdet zu sein, plötzlich vom Wahnsinn ergriffen zu werden. Während Robert noch versucht, eine rationale Erklärung zu finden, ist Schwester Johanna schon längst davon überzeugt, dass hier höhere Mächte am Werk sind. Sie durchstöbert ihre zahlreichen Bücher, die sich mit düsteren Phänomenen befassen und kommt zu einem unglaublichen Schluss: Offenbar ist das germanische Gottwesen Lugus, auch als Loki bekannt, unter ihnen und schlüpft in die Gestalten verschiedener Dorfbewohner. Sein Ziel ist Chaos und Verwirrung und es fehlt nicht mehr viel, um das Dörfchen Ödrode zu zerstören.
Die vielen grausamen Vorfälle haben die Dorfbewohner verhärtet, sie stehen sich misstrauisch gegenüber und der schon längst überwunden geglaubte Hexenwahn bekommt neue Nahrung. Obwohl im Königreich Preußen die Hexenverbrennungen untersagt sind, wollen die Dorfbewohner die zuletzt dem Wahnsinn anheim gefallene Frau auf den Scheiterhaufen bringen. Robert begreift schnell, dass er und seine vier Männer dem Zorn der Dorfbewohner nicht mehr lange standhalten können - zu viel musste das Dorf in den letzten sechs Jahren erleiden, als dass es sich noch von den königlichen Gesetzen abschrecken ließe. Der Pöbel giert nach Blutrache und will die Wahnsinnigen mittlerweile am liebsten sofort hinrichten, statt nach der Ursache zu suchen. Robert und Johanna stehen einem fast aussichtslosen Kampf gegen eine böse Macht gegenüber, Unterstützung durch die Bevölkerung können sie dabei ohnehin nicht erwarten. Da der Roman ohne Ich-Erzähler auskommt, gibt es niemanden unter den Figuren, der vor dem Tod gefeit ist. Liebgewonnene Hauptfiguren können genauso sterben wie sympathische Nebenfiguren - und tatsächlich gibt es im Verlauf der Handlung die eine oder andere Figur, die zum Bedauern des Lesers sterben muss.
Überzeugende Charaktere
Im Mittelpunkt stehen gleichermaßen Robert Collas, Schwester Johanna und das Dienstmädchen Ida. Robert gewinnt gleich in seiner ersten Szene die Sympathie des Lesers, als er mit seiner humorvoll-forschen Art den Preußenkönig vor den Kopf stößt. Zugleich erscheint er aber auch als tatkräftiger Leutnant, der seine Aufgabe mit dem nötigen Ernst verfolgt und dabei unbeirrt den gesetzestreuen Weg verfolgt. Schwester Johanna ist trotz ihres festen Glaubens nicht gerade eine typische Nonne: Obwohl sie ihr Kloster liebt, zieht es sie dank ihrer verständnisvollen Äbtissin dennoch regelmäßig hinaus in die Welt, um Forschungen zu betreiben und übernatürliche Phänomene zu erkunden. Auch ihre scharfe Zunge, ihr Sinn für geistreichen Spott und ihre Vorliebe für Branntwein, worin sie den Soldaten in nichts nachsteht, machen ihren liebenswerten und originellen Charakter aus. Johanna und Robert verbindet ein mächtiges Band, nachdem sie begriffen haben, dass Lugus in jedem der Dorfbewohner stecken könnte und dass es immer vier Gestalten zugleich sind, in die er geschlüpft ist. Sie beide sind die einzigen, die sich noch trauen können. Die achtzehnjährige Ida ist ein schüchternes Mädchen, das nach dem Tod der Dienstherrin nun die weite Reise von ihrer einstigen Heimat Frankfurt nach Braunschweig antritt. Ida verkörpert eine Mischung aus Unschuld und Naivität, gänzlich unerfahren mit den Männern und sehr unglücklich darüber, welche Wendung die Reise genommen hat. Im Laufe der Handlung entwickeln sich zarte Bande zwischen Ida und dem Schustergesellen Paul, wohin das aber führt, ist bis kurz vor Schluss ungewiss.
Dann ist da noch der lange Zeit undurchschaubare Student der Naturwissenschaften Benedikt Pohl. Schon während der Kutschfahrt hat er ein Auge auf Ida geworfen, die ihn aber konsequent zurückweist. Immer wieder ergeben sich Situationen, in denen er ihr beisteht, trotzdem wissen weder Ida noch der Leser zunächst, ob ihm zu trauen ist. Ein herber Gegensatz zu der verschüchterten Ida ist die ordinäre Sophie Ruhleben, die mit jedem Mann flirtet und ein Ausbund an Oberflächlichkeit ist. Vor allem aus diesem Zusammenspiel der sehr unterschiedlichen Charaktere ergeben sich immer wieder sehr reizvolle amüsante Szenarien - seien es Wortgefechte zwischen Sophie Ruhleben und Schwester Johanna, die die Ordensschwester mühelos gewinnt oder die Ratschläge zum Flirten, die Ida von Sophie erhält und die das unbedarfte Mädchen in Verlegenheit bringen. Trotz dieser humoristischen Einlagen verliert die Handlung nie an Dramatik, stattdessen gelingt der Autorin eine hervorragende Ausgewogenheit zwischen Spannung und Augenzwinkern. Besonders reizvoll ist das ständige Bangen, dass einer der sympathischen Charaktere sich als Truggestalt des Lugus entpuppt. Bis auf Robert und Johanna kommt jeder dafür in Frage und tatsächlich gibt es die eine oder andere Person, die sich dann entgegen der Hoffnung des Lesers als Lugus herausstellt.
Nur winzige Schwächen
Anzukreiden ist dem gelungenen Roman wahrlich wenig. Vielleicht gelingt es Schwester Johanna ein wenig zu leicht, auf Lugus als Ursache hinter den Vorfällen zu schließen, ein bisschen länger im Dunkeln zu tappen wäre realistischer gewesen. Generell hätten dem Roman ein paar zusätzliche Seiten durchaus gut getan, denn gegen Ende entwickeln sich manche Dinge doch ein wenig sehr schnell. Das gilt vor allem für die Liebesgefühle, die jemand plötzlich entdeckt und die ein bisschen wie aus heiterem Himmel erscheinen. Der Prolog, der im Jahr 723 spielt, ist zwar sehr atmosphärisch, verrät aber etwas zu viel, dabei wäre es interessant gewesen, einiges erst im Laufe der Handlung zu enthüllen.
Unterm Strich ist Das Totendorf ein höchst lesenswerter historischer Roman mit leichtem Fantasyeinschlag, der durch Spannung, sorgsam dosiertem Humor und sehr sympathischen Hauptfiguren überzeugt.
Alexandra Sell, Heyne
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