Straßen von gestern

  • Schöffling
  • Erschienen: Januar 1983
  • 1
  • Schöffling, 1981, Titel: 'Yesterday's Streets', Originalausgabe
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Daniela Loisl
891001

Histo-Couch Rezension vonFeb 2012

Große Familiensaga mit tragischem Verlauf

Kurzgefasst:

Dort, wo heute in Frankfurt die Doppeltürme der Deutschen Bank aufragen, kommt 1903 Lene Wertheim zur Welt. Die Wertheims sind eine alteingesessene jüdische Familie im feinen Westend, mit festen Grundsätzen und Regeln. Man feiert Weihnachten als prunkvolles Familienfest - zum Entsetzen der orthodoxen Verwandtschaft. »Die Juden sind wie alle anderen, und wenn sie es nicht sind, sollten sie es sein«, erklärt Eduard Wertheim, Bankier, Kunstsammler und Mäzen, seinen Nichten und Neffen. Jacob, der Intellektuelle in der Familie, gründet eine Buchhandlung am Römer. Und Elias Süßkind, Eduards Freund und Schwager, wird Direktor des Städel - bis zur Schließung der Galerie zeitgenössischer Malerei 1933. Lene erhält 1938 in Paris für sich, ihren zweiten Mann und ihre beiden Kinder Ausreisevisa für die USA. Aber nicht alle Wertheims haben das Glück, sich rechtzeitig vor den Nazis in Sicherheit bringen zu können.

 

1903. Die Wertheims sind eine alteingesessene Familie In Frankfurt. Man achtet sie gesellschaftlich und respektiert die Männer der Familie aufgrund ihrer Strebsamkeit, ihres Erfolges und ihrer Verlässlichkeit. Fünf Söhne haben Moritz und Hannchen Wertheim, und auch wenn Gottfried, der mittlere der fünf, so ganz aus dem Rahmen fällt, so steht letztendlich der Familienzusammenhalt stets an erster Stelle.

Eduard, genannt Edu, ist der jüngste der Brüder, aber er ist es auch, der vom Vater die Geschäfte übernimmt und zum Wohle aller führt. Das Leben der einzelnen Familienmitglieder ist von Hochs und Tiefs gezeichnet, wie es eben bei allen Menschen der Fall ist. Finanziell braucht sich jedoch keiner zu sorgen, denn Edu ist stets darauf bedacht, alle gerecht zu behandeln und gegebenenfalls auch unterstützend mit Rat zur Seite zu stehen.

Doch die Jahre vergehen und was der Leser längst weiß, dass nämlich doch die Nazis an die Macht kommen, wird für die Wertheims ein Kampf ums Überleben, denn sie sind Juden...

Fulminant erzählte Geschichte

Klappt man die knapp 700 Seiten des Buches zu, beschleicht einen das Gefühl des Verlustes. Silvia Tennenbaum erzählt nicht nur die Saga einer großen Frankfurter Familie, sondern stellt jedes einzelne Familienmitglied dem Leser vor und vermittelt ihm auf diese Weise das Gefühl, auch jedem einzelnen schon begegnet zu sein.

Schrittweise, aber stets ereignisreich und atmosphärisch dicht, erhält man Einblicke in die intime Welt der Wertheims. Familientraditionen werden gepflegt. Am Sonntag finden sich alle bei Hannchen und Moritz zum Essen ein und da werden auch wichtige geschäftliche Themen unter den Männer besprochen und die Frauen diskutieren über die neueste Mode, die Kinder oder das Personal.

Eine ganz normale, große Familie - könnte man meinen, wenn zwischendurch nicht immer wieder durch irgendeine Kleinigkeit daran erinnert werden würde, dass sie zu den Juden gehören und damit ihr Schicksal schon so gut wie besiegelt ist. Obwohl nicht auf jüdische Traditionen achtend und sogar die christlichen Feste wie Weihnachten feiernd, hängt das Damoklesschwert der braunen Sippschaft bald über ihnen. Man feiert Geburten und Hochzeiten, betrauert den Tod eines geliebten Menschen und man erlebt den Ersten Weltkrieg und zieht für den Kaiser in den Kampf. Aber das Hauptaugenmerk dieses Buches ist letztendlich, wie könnte es anders sein, auf den Untergang der Wertheims gerichtet.

Der Leser hat den Figuren vieles an Wissen voraus und die Autorin versteht es auf sehr intelligente Weise, die Empathie für die Figuren zu schüren, die meist doch noch voller Hoffnung ihrem Schicksal entgegensehen.
Immer enger zieht sich die braune Schlinge, die so großzügig gelegt wurde und man fiebert mit den liebgewonnenen Figuren und hofft, sie mögen dem unbarmherzigen antisemitischen Mob entkommen. Das Fatale an dieser Geschichte jedoch ist, dass es keine fiktive ist, denn die Wertheims haben wirklich gelebt.

Ein Kosmos an unterschiedlichen Charakteren

Eine immens große Familie sind sie, die Wertheims. Bis man alle kennt und sich die Namen merkt, kann man alle Mitglieder der Familie im Stammbaum auf der letzten Seite des Buches finden. So farbenprächtig und ereignisreich schon die Erzählung selbst ist, so vielschichtig und liebevoll sind auch die Darsteller gezeichnet. Alle wirken wie aus dem wahren Leben entnommen, was die Sympathie zu einzelnen Figuren nur noch verstärkt.

Tennenbaum spielt nicht mit reißerisch dramatischen Ereignissen, es genügt, wenn sie die Geschehnisse so schildert wie sie passierten, um glaubwürdig und authentisch zu sein.

Ein stiller und schmerzhafter Abschied

Vielen Juden erging es wie den Wertheims, sie stehen hier nur Pate für eine Vielzahl an Familie. Durch die so plastische Schilderung der damaligen Geschehnisse werden zwar beklemmende und unfassbare Gefühle wieder geweckt, aber zugleich sorgen diese auch dafür, dass man nicht vergisst.

Ein bildgewaltiges, farbenprächtiges Buch mit Figuren voller Hoffnung, Ängste, Zuversicht, Liebe und Kraft. Eine Familiensaga, die durch die Zeit, in der sie spielt, noch mehr an Bedeutung gewinnt. Ein wunderbares Buch, das nicht nur von Frankfurtern gelesen werden sollte.

Straßen von gestern

Silvia Tennenbaum, Schöffling

Straßen von gestern

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