Im Rausch der Freiheit

  • Blessing
  • Erschienen: Januar 2012
  • 2
  • Blessing, 2010, Titel: 'New York', Originalausgabe
Im Rausch der Freiheit
Im Rausch der Freiheit
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Eva Schuster
911001

Histo-Couch Rezension vonApr 2012

Eine Weltstadt und ihre epische Geschichte

Kurzgefasst:

Edward Rutherfurd erzählt von mutigen Frauen und mal klugen, mal gerissenen Männern, die die große Freiheit von New York, den Glanz und das Elend dieser pulsierenden Metropole bis zur Neige ausgekostet haben: Da sind die van Dycks, niederländische Einwanderer, die ihren Aufstieg dem Pelzhandel mit den Indianern verdanken. Da sind die aus England stammenden Masters, eine puritanische Kaufmannsfamilie, die während des Aufstands der amerikanischen Kolonien gegen das Mutterland und später auch durch die Sklavenfrage und den Bürgerkrieg zu zerreißen drohte. Aus Deutschland schließlich wanderten im 19. Jahrhundert die Kellers ein, eine Familie von Lebenskünstlern, Gelehrten und Künstlern, die sich in den Roaring Twenties in den Flüsterkneipen und Jazzbars vergnügte. Die schönste, aber auch die tragischste Liebesgeschichte bleibt jedoch den Carusos vorbehalten, die 1901 aus Neapel aufbrachen, sich im Little Italy genannten Stadtteil ansiedelten und anfangs vom Großstadtleben überfordert schienen. Rutherfurds farbenprächtiges Familienepos zeichnet die Geschichte New Yorks von seiner Gründung bis in unsere Zeit nach. Zahlreiche historische Persönlichkeiten wie George Washington, Abraham Lincoln, Theodore Roosevelt oder der legendäre Bankier und Großunternehmer J. P. Morgan werden dem Leser in Nahaufnahme porträtiert. Und immer wieder wird deutlich, wie sehr auch deutsche Einwanderer - der aufsässige Gouverneur Johann Jakob Leisler, der unbeugsame Drucker J. P. Zengen oder der Multimillionär Johann Jakob Astor - die Geschichte dieser faszinierenden Stadt prägten.

 

Die holländischen van Dycks, die englischen Masters, die deutsche Familie Keller und die italienischstämmigen Carusos haben eines gemeinsam: Sie alle wandern nach New York ein und prägen gemeinsam mit ihren nachfolgenden Generationen die Geschichte jener Stadt von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis ins 21. Jahrhundert.

Da ist der Holländer Dick van Dyck, der mit den Indianern Pelzhandel betreibt und neben seiner offiziellen Familie noch ein Kind mit einer Indianerin hat, das er über alles liebt. Da ist die Kaufmannsfamilie Master, die die politischen Konflikte miterlebt, die schließlich im Unabhängigkeitskrieg und im Sezessionskrieg enden.

Die Kellers wandern aus Deutschland im 19. Jahrhundert ein und erleben den Aufschwung der industriellen Bewegung, den Glamour der Golden Twenties wie auch den verheerenden Börsencrash. Anfang des 20. Jahrhunderts brechen auch die Carusos aus Italien nach New York auf und erfahren in Little Italy die schönen und düsteren Seiten ihrer neuen Heimat ...

Im Rausch von New York

Der Brite Edward Rutherfurd ist bereits ein Routinier, wenn es darum geht, in epischer Breite die Geschichte einer Stadt oder einer Nation zu beleuchten. Einer Metropole wie New York gerecht zu werden ist ein äußerst anspruchsvolles Unterfangen - dem Rutherfurd aber dank seiner Erfahrung und Sachkenntnis auf wunderbare Weise nachkommt. Mehr als 1100 Seiten umfasst das Ergebnis, das die Geschichte des einstigen "Neu Amsterdams" von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis ins 21. Jahrhundert erzählt.

Fülle an Charakteren

Rutherfurd stellt vier Familien in den Mittelpunkt, die die wechselhafte und dramatische Entwicklung der Stadtgeschichte illustrieren. Die erste Figur, die der Leser näher kennen lernt, ist der Holländer Dirk van Dyck, ein geschickter Kaufmann, dessen Geschäfte mit den Indianern ihn schließlich in ein Doppelleben münden lassen. Zuhause warten seine kühle Frau und Kinder, mit einer Indianerin zeugt er das Mädchen "Bleiche Feder". Nach dem Tod der Mutter durch Pocken besucht er seine Tochter bei jeder Gelegenheit und kann nie die Scham überwinden, dass er vor Angst aus Ansteckung seine Geliebte in den letzten schweren Stunden im Stich ließ. Die ungewöhnliche Beziehung zwischen dem Halb-Indianermädchen und dem holländischen Vater wird liebevoll und rührend geschildert; der aufwändige Schmuckgürtel mit Muscheln und Schnecken, den "Bleiche Feder" ihrem Vater schenkt, wird später zum Leitmotiv in der Handlung werden und dem Leser bis ins Jahr 2001 immer wieder begegnen.

Dirks Tochter heiratet schließlich Tom Master, Spross einer englischen puritanischen Familie, die es zu großem Reichtum bringt und deren Schicksal der Leser bis in die Gegenwart verfolgt. Eine ihrer markantesten Persönlichkeiten ist John Master. Anfang des 18., Jahrhunderts ist er ein sehr attraktiver, allerdings intellektuell nicht besonders begabter junger Mann, der sich für seine Unzulänglichkeiten schämt. Im Laufe der Zeit entwickelt er sich zu einem erfolgreichen und selbstbewussten Charakter, der auf eine harte Probe gestellt wird, als sich sein Sohn James den Patrioten anschließt - den Siedlern, die für die Unabhängigkeit Amerikas kämpfen, während Loyalisten wie John Master der britischen Krone die Treue halten. Besonders reizvoll sind die Vermischungen der Familiengeschichten untereinander, auch wenn die Zusammenhänge im Laufe der Jahrhunderte mitunter verwirren können und man schließlich beim Anschlag auf das World Trade Center nur noch schwerlich weiß, in welchem Verwandtschaftsverhältnis die aktuellen Nachkommen der jeweiligen Familien mit den Ursprungscharakteren stehen. Der Roman führt durch alle Gesellschaftsschichten und Ecken New Yorks, vom Hafen über Armenhäuser, in elegante Salons und politische Kreise, in Jazzbars und die mondäne Fifth Avenue, zur Wall Street und zum Empire State Building.

Natürlich werden auch Liebesverwicklungen der Charaktere ausgiebig thematisiert und sorgen für rührende, romantische, aber auch traurige und dramatische Szenen. Scheinbar ungleiche Paare finden zusammen und lieben sich Jahrzehnte lang, andere Figuren werden bitter enttäuscht und vorhersehbar sind diese Verläufe nicht. Es bleibt dabei nicht aus, dass manche Charaktere oberflächlicher abgehandelt werden als andere. Einige Figuren haben wiederum ein so interessantes Leben, dass sie gut und gerne einen eigenständigen Roman damit füllen könnten. Ab und zu wünscht man sich, bei einem Schicksal länger zu verweilen und muss sich verfrüht von einem Charakter verabschieden - aber das bleibt nicht aus, wenn fast 400 Jahre Stadtgeschichte abgehandelt werden.

Die fiktiven Schicksale mischen sich gekonnt mit dem Leben historischer Personen. George Washington, Benjamin Franklin, Abraham Lincoln, Theodore Roosevelt, die Astors oder J.P. Morgan sind nur einige der schillernden Gestalten der amerikanischen Geschichte, die hier porträtiert werden.

Anspruchsvoll und lehrreich

So interessant die einzelnen Schicksale auch sind, nie gerät bei der Schilderung die Stadtgeschichte in den Hintergrund. Ausführlich erfährt der Leser die jeweiligen politischen Entwicklungen. Seien es die Konflikte zwischen Loyalisten und Patrioten, die zum Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg führen, die Rassenunruhen und die Sklavenfrage bis hin zum Bürgerkrieg, die Kriminalität, Korruption und Prohibition, stets wird der Leser über die Anfänge der Konflikte bis zu ihrem Höhepunkt informiert. Vorkenntnisse sind generell nicht notwendig, da die Schilderungen immer anschaulich bleiben und die jeweiligen Sichtweisen ausgiebig beleuchten - allerdings ist "Im Rausch der Freiheit" nicht allein wegen des enormen Umfangs ein anspruchsvolles Werk, das den Leser fordert. Hin und wieder neigt der Autor leicht zum Dozieren und führt einen Gedanken ein bisschen zu weitschweifig aus, als wolle er sichergehen, dass kein Missverständnis entstehen kann - neigt dabei aber auch ein wenig zur Wiederholung. Kleine Exkurse, die an ein Sachbuch erinnern, lassen sich bei der überbordenden Informationsfülle kaum vermeiden. Daher sind diese Abschweifungen durchaus verzeihlich und es nimmt nur wenig von der Spannung heraus, wenn die Handlung mal zeitweise ein bisschen in den Hintergrund zugunsten einiger Fakten gerät. Generell meistert Rutherfurd den Kompromiss zwischen Geschichtsbuch und Roman sehr geschickt. Nach der Lektüre liegt es nah, sich mit dem einen oder anderen Abschnitt der New Yorker Geschichte näher zu befassen und erneut in die schillernde Metropole einzutauchen.

Schade ist allerdings, dass das Buch zwar mehrere Karten zu New York und seinem Umland enthält, aber weder eine Zeittafel noch ein Personenregister - gerade bei der Fülle an Charakteren wäre eine solche Auflistung äußerst hilfreich gewesen. Zudem ist es natürlich Geschmackssache, welche Umstände der New Yorker Geschichte den Leser am meisten interessieren. Trotz des eindrucksvollen Umfangs hat sich Rutherfurd beschränken müssen - während der Roman beispielsweise die europäischen Einwanderer ausgiebig thematisiert, bleibt die Geschichte der Asiaten in New York nahezu unberührt und auch zur Geschichte der Juden und den Indianern erfährt man nicht viel, obwohl es dazu nicht weniger zu sagen gäbe als zu anderen Themen. Je nachdem, mit welchen Erwartungen und Interessengebieten der Leser an die Lektüre herangeht, kann er also leicht enttäuscht werden.

Fazit: Ein in allen Belangen episches Werk über fast 400 Jahre New Yorker Geschichte mit zahlreichen mitreißenden Schicksalen und ebenso faszinierenden historischen Personen. Ein anspruchsvoller Roman, der Konzentration erfordert, die jedoch ausgiebig belohnt wird.

Im Rausch der Freiheit

Edward Rutherfurd, Blessing

Im Rausch der Freiheit

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