Die gesammelten Werke von Billy the Kid
- Hanser
- Erschienen: Januar 1997
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- Hanser, 1971, Titel: 'The Collected Works of Billy the Kid', Originalausgabe
Ein Abgesang auf den Wilden Westen und die Freundschaft
Kurzgefasst:
Billy the Kid, eigentlich Mr. William Bonney, geboren 1859, erschossen im Alter von 22 Jahren - und für jedes Lebensjahr gab es einen Toten, sagten die Leute. Von allen Legenden, die es je im Wilden Westen gab, war er die größte. In ihm vereinigten sich die Romantik und Gewalttätigkeit dieser Zeit, er war Liebhaber und Killer, ein halbes Kind noch und stets dem Tode nah. Hier tauchen sie alle auf, die Freunde und die Feinde: John und Sallie Chisum, auf deren Farm Billy immer wieder Zuflucht suchte; Angela D, die ehemalige Prostituierte, Billys Geliebte; Charlie Bowdre und Tom O'Folliard, die so elend ums Leben kamen, und Billys Nemesis, sein einstiger Freund Pat Garrett.
Über Billy the Kid ist nicht viel bekannt. Er wurde 1859 als William H. Bonney (Henry McCarty) geboren. Sein Arbeitgeber in der zweiten Hälfte der 1870er Jahre war der Rancher John Tunstall. Im Rinderkrieg von Lincoln County, New Mexico, standen sich 1878 zwei Parteien gegenüber: die Rancher Tunstall und John Chisum waren die Köpfe der einen, eine Gruppe von Geschäftsleuten um die Iren Lawrence Murphy (Gründer von L.G. Murphy & Co.) und J.J. Dolan (James Dolan) auf der anderen Seite. Billy wurde Zeuge der Ermordung Tunstalls und Mitglied einer Gruppe von Hilfssheriffs und Regulatoren, die Tunstalls Mörder festnehmen sollten. Zu den Regulatoren gehörten auch Billys bester Freund Tom O'Folliard, Dave Rudabaugh und Charlie Bowdre. Durch ihre Handlungen wurden sie Gesetzlose. Unter anderem weigerte Chisum sich, 500 Dollar Schulden bei Billy zu begleichen, weshalb der ihm Rinder stahl. Billy und Pat Garrett waren Freunde, die sich von Chisums Ranch kannten. Als Garrett 1880 durch den Einfluss Chisums Sheriff von Lincoln County wurde und Billy stellen sollte, gab er ihm wiederholt sechs Wochen Zeit, nach Mexiko zu fliehen und erschoss den Unbewaffneten aus einem Hinterhalt am 14.7.1881. In der Folgezeit wurde Billy the Kid zu einer der großen Figuren des Mythos vom Wilden Westen. Ihm werden maximal 22 Tötungsfälle zugeschrieben, von denen vier als gesichert gelten.
Ein Grenzen verschiebendes Debüt
Michael Ondaatje hat Die gesammelten Werke von Billy the Kid 1970 als Debüt vorgelegt, zweiundzwanzig Jahre vor Der englische Patient, der ihn in Deutschland einer breiteren Leserschaft bekannt gemacht hat. Im Jahr 1997 erschien die deutsche Übersetzung von Werner Herzog. Das Buch wird seit seinem Erscheinen verschiedenen Genres zugeordnet, insbesondere mal als Lyrik, mal als Roman bezeichnet. Der Untertitel des Originals lässt auf einen Lyrikband schließen: Lefthanded Poems, ist aber erst einmal nur eine Anspielung darauf, dass Billy the Kid auch als "The left handed Gun" bezeichnet wurde. Ondaatjes Buch wurde später als Drama an einem Theater in San Francisco aufgeführt.
Ondaatje erzeugt in seinem Buch eine Collage aus Prosatexten und Lyrik (Gedichte, Balladen), einer Übersicht, aus Illustrationen und sieben Fotos, von denen zwei leer sind, einer Anweisung, Erinnerungen, einem langen Zeitungsinterview und einem Auszug aus einem Groschenheftchen, in dem von einer kurzen Affäre Billys mit einer mexikanischen Prinzessin erzählt wird.
Ein Vorläufer dieser Collagetechnik ist Max Ernst, der in seiner surrealistischen Phase drei Collagenromane (La femme 100 têtes, 1929; Rêve d'une petite fille qui voulut entrer au carmel, 1930; Une Semaine de bonté ou Les sept éléments capitaux, 1934) fertigte, entweder als seitenweise Bild-Text-Kombination, oder wie im dritten Buch, als Sammlung von Holzstichen. Diese Werke erinnern aber mehr an Graphic Novels. Das Buch Ondaatjes kombiniert sehr viel mehr unterschiedliches Material miteinander und mag durchaus eine Inspiration für Joseph O'Connors Wo die Helden schlafen gewesen sein.
Pat Garrett jagt Billy the Kid
Pat Garrett ist Teil der Legende Billy the Kids. Die Beziehung zwischen Billy und Pat sowie die Verfolgung Billys durch Pat strukturieren die fragmentarische Erzählung. Ondaatje greift das Motiv der Freundschaft beider Männer auf, transformiert es dabei aber in ein Motiv des Verrats.
Die Erzählung wird getrieben durch den Konflikt zwischen Billy und Pat, der ein Symbol für die Janusköpfigkeit des Rechtssystems ist. Pat Garrett wechselte nach Jahren als Gangster und Attentäter die Seite, wurde Sheriff und damit das Gegenstück zu Billy, den zur Strecke zu bringen er beauftragt war, den er aber vorher warnte. Sallie Chisum sagt einmal im Buch, sie sei mit beiden Männern eng vertraut gewesen. "Es war da Gutes mit Schlechtem vermischt bei Billy the Kid und Schlechtes mit Gutem bei Pat Garrett."
Wie erzählt man eine Biographie bei fragwürdiger Materiallage?
Das Buch ist 141 Seiten lang und enthält keine Unterteilungen in Abschnitte. Es beginnt mit einem leeren Bilderrahmen, unter dem steht: "Ich schicke dir ein Bild von Billy", gefolgt von Angaben des Fotografen. Der Sender und der Empfänger sind anonym. Die Unangemessenheit des Versuchs, eine Person zu fixieren, die sich durch die Legende und deren Veränderung im ständigen Wandel befindet, drückt Ondaatje damit bereits auf der ersten Seite aus.
Die historische Person Billy the Kid ist schon vor solch langer Zeit zum Mythos geworden, dass es schwierig ist, überprüfbare Fakten für eine Biografie auszumachen. Michael Ondaatje nimmt die Daten, die nicht mehr sind als ein historisches Skelett, löst die Knochen voneinander und versieht sie mit Elementen seiner fiktionalisierten Biografie sowie psychologischen Überlegungen.
Die Collageform korrespondiert mit der nur fragmentarischen Biografie. Ondaatje entwickelt durch seinen Gebrauch der Sprache eine persönliche Perspektive auf eine der mythischen Figuren des Wilden Westens, der selbst wieder Mythos ist. Ondaatjes Buch ist auch ein Beitrag zu den Problemen, die sich ergeben, wenn man aus wenigen und unzuverlässigen Daten eine Persönlichkeit kristallisieren will.
Die Leser und Leserinnen werden an der Gestaltung der Biografie und am Fortspinnen des Mythos beteiligt
Billy sagt im Buch: "Das ist keine Geschichte über mich, durch ihre Augen damals gesehen. Findet den Anfang, den leichten Silberschlüssel zum Aufsperren, zum Ausgraben. Hier also ist ein Irrgarten, mit dem man beginnen, in dem man sein kann." Wir werden direkt angesprochen nicht nur als Lesende, sondern uns wird auch ein Angebot gemacht: Wir lesen keine Geschichte, sondern erhalten Informationen, einen Zettelkasten ohne Seitenangaben, in dem wir uns zurechtfinden wie in einem Irrgarten. Wir können lesen, wir können beobachten, verknüpfen, Hinweise suchen, die Ordnung in das Material zu bringen helfen. Sind wir aber erst einmal im Text, bemerken wir schnell, dass es eine Menge Ankerpunkte gibt, szenische Anker zumeist.
Billy als Erzähler präsentiert uns seine Erinnerungen, seine Gedanken zu bestimmten Ereignissen, die er uns häufig in kurzen blutgetränkten Bildern vermittelt. Eine Gewaltlust ist hier nirgends zu spüren, eher ein professioneller oder beruflich bestimmter Umgang mit der Gewalt, der ihr einen Instrumentencharakter verleiht. Umso heftiger dann sind Billys Bilder. Die tatsächlichen Bilder, der Erzählung beigefügte Fotografien, zeigen aber etwas anderes. In den beiden Illustrationen sind ein erotisches Motiv und eins mit Toten zu sehen.
Über den von Kugeln durchsiebten Charlie Bowdre sagt Billy: "Augen wuchsen auf seinem ganzen Körper". Diese Gleichsetzung von Augen mit Wunden ist bestimmend für Billys Blick auf die Welt. Kaum eine Seite im Buch, auf der sich nicht ähnliche Gedanken finden.
Nachdem Billy erschossen wurde, nimmt er bei Ondaatje selbst, an der Wand liegend, mit einer Kugel im Kopf, die ihm Juckreiz verursacht, die Transformation in den Mythos vor. Dieser wird anschließend stabilisiert durch Erinnerungen Paulita Maxwells und einer anonymen Person, deren Gedanken mit den Worten beginnen: "Stellen Sie sich vor, man würde ihn wieder ausgraben und ihn aus der Erde holen."
Michael Ondaatjes Die gesammelten Werke von Billy the Kid ist ein faszinierender Genre-Mix, voller grotesker Bilder der Gewalt, die für die Hauptfigur so natürlich ist wie das Leben selbst.
Michael Ondaatje, Hanser
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