Cristóbal oder Die Reise nach Indien
- C.H. Beck
- Erschienen: Januar 2012
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- C.H. Beck, 2010, Titel: 'L'Entreprise des Indes', Originalausgabe
Beeindruckender Rückblick auf eine Zeit der Entdecker
Kurzgefasst:
Als alter Mann erzählt Bartolomeo Columbus, Bruder des Entdeckers, vom Traum des Columbus, der auch der seine wurde, von der fieberhaften Neugier der Seefahrer, die in der Neuen Welt in Grausamkeit umschlug - oder vielleicht von Beginn an den Keim dazu in sich trug.
Das Tor zur Welt öffnet sich für den sechzehnjährigen Bartolomeo durch seine winzig kleine Handschrift. Unermüdlich trägt er für einen Lissaboner Kartographen die Orte auf jenen Karten ein, durch die sich die Welt zu einem neuen Bild formt. So fasst er Fuß in der weltläufigen Stadt der Mathematiker, Geographen, Schiffsbauer und Seefahrer, einem Schmelztiegel von Portugiesen und Genuesern, Juden und Arabern. Vom großen Wissensdrang der Zeit wird schließlich auch Cristóbal ergriffen; forschend und rechnend bereitet er mit dem Bruder acht Jahre lang die große Reise nach Indien vor. Der Erfolg ist bekannt. Doch wann verlor die Neugier ihre Unschuld? Warum, so fragt sich Bartolomeo im Rückblick, warum entdecken, wenn man am Ende diejenigen tötet, die man entdeckt?
Erster Advent, 1511. Bartolomeo Columbus, um zwei Jahre jüngerer Bruder von Cristóbal Columbus, hierzulande besser bekannt als Christopher Columbus, sitzt in der Messe in Santo Domingo auf der Insel Hispaniola und hört wie alle anderen Anwesenden eine unerhörte Predigt. Der Priester fragt die Gemeinde, warum sie die Indianer knechten und schlecht mit ihnen umgehen, warum sie sie töten und nicht als Menschen betrachten wie sie selber auch sind. Dies nimmt Bartolomeo zum Anlass, sein Leben und das seines berühmten Bruders zu reflektieren.
Bartolomeo erzählt von seiner Ankunft als Genuese in Lissabon, wo er Kartograph wird, da seine einzige Fähigkeit ist, sehr klein zu schreiben. Fortan schildert er das Leben im Hafen von Lissabon, gespickt mit gelegentlichen, wenngleich seltenen Besuchen seines seefahrenden Bruders Cristóbal, der immer davon träumt, berühmt zu werden und Neues zu entdecken.
Als Cristóbal sesshaft wird, heiratet und eine Familie gründet, scheint der Traum zunächst ausgeträumt, doch weit gefehlt - er bereitet sich auf seinen kühnsten Coup vor: er will einen Seeweg Richtung Westen nach Indien finden. Dass die Erde rund ist, wird inzwischen nicht mehr bezweifelt, doch wie lange braucht man für den Weg nach Indien? Cristóbal wird beim König von Portugal vorstellig, doch seine Berater lehnen die Finanzierung der Reise ab. Wutentbrannt verlässt Cristóbal Lissabon Richtung Spanien, der Rest ist Geschichte. Und Bartolomeo verpasst leider die Abfahrt der drei Schiffe nach Indien...
Eindrucksvolles Bild der Zeit
Mit seinem ersten historischen Roman hat der französische Schriftsteller Erik Orsenna gleich ein Werk vorgelegt, dass dem Leser noch lange im Gedächtnis bleiben dürfte - und das im äußerst positiven Sinne. Mit viel Sprachwitz und Humor, aber dennoch ernsthaft beschreibt Bartolomeo Columbus sich und seinen älteren Bruder Cristóbal und malt dabei ein eindrucksvolles Bild der Zeit.
"Dass ich erzähle, war nicht vorgesehen. Träumen ist in unserer Familie Sache des älteren Bruders. Und dieser Traum wurde unantastbar. Ob wir wollten oder nicht, Cristóbal hat uns alle an Bord genommen. Er wies jedem von uns eine Rolle zu. Meine war es, ihm Tag und Nacht beizustehen. Und zu schweigen. Es wäre mir nie eingefallen zu protestieren. Wozu sich gegen ein Gesetz wenden, wenn das Gesetz das eigene Herz ist? Ich habe gut daran getan einzuwilligen: So hat sich der Traum erfüllt."
So beginnt der Roman über den Entdecker Amerikas, der zeitlebens überzeugt war, einen Seeweg nach Indien westwärts gefunden zu haben. Dabei erzählt Bartolomeo zunächst seine eigene Geschichte. Er erzählt, wie er nach Lissabon kam und dort wegen seiner einzigen Fähigkeit, nämlich sehr klein schreiben zu können, in einem Offizium für Kartographie unterkam. Dieses Offizium liegt direkt am Hafen von Lissabon, und von nun an verbreitet der Erzähler eine Atmosphäre des Hafens mit seine Sitten und Gebräuchen, dass es ein Fest für alle Sinne ist.
Vom Problem, den Dingen einen Namen geben zu müssen
Man erfährt vor allem über Dinge, über die man sich bislang keine Gedanken gemacht hat, wie beispielsweise die Notwendigkeit, den neuen und unbekannten Dingen aus Afrika einen Namen geben zu müssen, da die afrikanische Sprache der "Wilden" ja nicht für christliche Zungen geeignet ist. Auch Kuriositäten wie ein Fels auf Beinen, mit einem Horn vorne auf der Nase, werden erstmals von einem Schiff auf das europäische Festland verfrachtet. Jeder Tag ist wie Weihnachten, es gibt immer neues und unbekanntes zu entdecken, nicht nur, was Dinge angeht, sondern auch, was die Kartographie angeht.
Kapitäne kommen ins Offizium, um ihre neuen Entdeckungen den Kartographen mitzuteilen, noch bevor sie ihre Familien besuchen. So ist auch Cristóbal stets unterwegs und Bartolomeo sieht ihn eigentlich nie. Doch Cristóbal ist auch nicht so sehr auf den kleinen Reichtum der alltäglichen Dinge aus. Auch nicht auf Gold, das mehr eine Notwendigkeit für seine Pläne ist. Er ist Entdecker und will neues entdecken und nicht Altbekanntes nur bestätigen. So dauert es Jahre, bis er es wagt, seine Fahrt Richtung Westen nach Indien zu planen, unterbrochen von einer Familiengründung.
Voller Saft und Kraft
Orsenna schafft mit seinem Roman nicht nur eine Charakterstudie von Cristóbal Columbus, sondern auch dieser Zeit des Aufbruchs in unbekannte Gefilde. Gelegentlich wird, wo unbedingt nötig, auf die politischen Verhältnisse hingewiesen, und wenn Portugals König die Expedition nach Westen nicht finanzieren will, so versucht man es eben in Spanien. Und wenn Bartolomeo sich am Ende seines Lebens fragt, ob es das alles wert gewesten sei, mit den Entdeckungen und den negativen Konsequenzen für die Entdeckten, die ja auf ihre Weise gleichsam Entdecker sind, so schließt sich der Kreis der Erzählung und hinterlässt einen beeindruckten Leser, dem immer noch der Duft des Lissaboner Hafens um die Nase weht.
Erik Orsenna hat einen Roman voller Saft und Kraft geschrieben, bei dem dem Leser aus jeder Zeile die Euphorie der Zeit des Entdeckens entgegenspringt. Auch die negativen Aspekte werden nicht außer acht gelassen, doch spielen diese bei den Beteiligten erst nach Cristóbals Tod eine Rolle. Dann aber bekommt der Roman eine angenehme Tiefe, die zwar die Euphorie bremst, dem Roman aber die angemessene gehörige Portion Realismus verleiht. Mag man an dem Roman überhaupt etwas bemäkeln, so kann es sich lediglich um die Fülle an doppelten Leerzeichen handeln, die leider durch den ganzen Roman vorkommen. Hier hätte der Verlag sorgfältiger abrieten können, allerdings entschädigt er durch ein ansprechendes Cover. Nichtsdestotrotz bleibt es ein hervorragender Roman, der Spaß macht und der noch lange im Gedächtnis bleibt. Äußerst empfehlenswert.
Erik Orsenna, C.H. Beck
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