Die verschollene Jungfrau
- Gmeiner
- Erschienen: Januar 2012
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- Gmeiner, 2012, Titel: 'Die verschollene Jungfrau', Originalausgabe
Eine Jungfrau zu wenig
Kurzgefasst:
Ein junger Restaurator wird mit der Restauration der Sandstein-Figurengruppe der Klugen und Törichten Jungfrauen im Lübecker St. Annenmuseum beauftragt. Sie gehörte einst zur Ausstattung der Burgkirche, die 1818 abgerissen wurde. Doch seither fehlt eine der Figuren. Was ist aus ihr geworden? Der Restaurator verliebt sich in die anmutigen Törichten. Sie verraten ihm ihr Schicksal, ein Lied von Liebe und Tod, Anpassung und Widerstand, Ehrgeiz und Verrat.
Lübeck, irgendwann in der Gegenwart: Nachwuchsrestaurator Florian Thormählen würde viel lieber die Pietà im Petersdom restaurieren, aber das muß wohl noch warten. Zunächst einmal muss er sich in Lübeck mit klugen und törichten Jungfrauen herumschlagen. Gemeint sind die mittelalterlichen Sandsteinfiguren aus dem ehemaligen Burgkloster, die nun im St. Annenmuseum stehen und eine Schönheitskur erhalten sollen. Aber es sind nicht die üblichen fünf törichten Jungfrauen sondern nur vier. Wo mag die fünfte geblieben sein?
Florian hat ein ganzes Wochenende Zeit, das Geheimnis der Figuren zu ergründen. Allein mit ihm in dem mittelalterlichen Gemäuer scheinen die Steinfiguren zum Leben zu erwachen und die Geschichte eines Frauenbundes zu erzählen, der zu Beginn des 19.Jahrhunderts die törichten Jungfrauen zu Beschützerinnen erkor. So führt die Geschichte überraschenderweise nicht ins Mittelalter, sondern in die Zeit des Napoleonkrieges:
Fünf Frauen finden sich im Klub der Nachtlilien zusammen. So unterschiedlich sie auch sind, so eint sie doch der Wunsch nach Selbstverwirklichung und freier Entfaltung. Jede von ihnen wählt einen anderen Weg und nicht jede von ihnen wird das selbst gesteckte Ziel erreichen. Lübeck ist von den Franzosen besetzt, die die Parole "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit!" mit nach Deutschland brachten. Die fünf Frauen interpretieren diese Losung für sich als "Freisinn, Gleichberechtigung und Menschlichkeit". Aber während sie einerseits die Ideale der Französichen Revolution durchaus begrüßen, lehnen sie das Töten und den Krieg ab. Ihr persönliches Leben gerät in die Strudel zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Eine harte Belastung für die Freundinnen, eine Zerreißprobe für ihren Bund, der letztendlich daran zerbricht. Als persönliche Differenzen die hehren Ideale überschatten, gipfelt die Auseinandersetzung in einen Mordversuch, der nur durch den Zusammenbruch der Burgklosterkirche vereitelt wird.
Viele Jungfrauen, wenig Struktur
"Skandal um eine verschwundene Jungfrau" hat der Verlag etwas reißerisch unter den Umschlagtext drucken lassen. Um es gleich vorweg zu nehmen: Der Skandal hält sich in überschaubaren Grenzen. Und auch den auf dem Cover versprochenen historischen Kriminalroman sucht man vergebens. Zwar gibt es reichlich Tote, aber ein ernst zu nehmender Kriminalfall mit dazugehörigem Detektiv, Spurensuche und Rätselraten entwickelt sich nicht.
Dem Spaß am Lesen tut dies keinen Abbruch, der Leser bekommt gute Chancen, die eigenen Gedanken mit einfließen zu lassen und gemeinsam mit den Protagonisten zu träumen. Allerdings zerfasert die Geschichte oft. Schließlich müssen hier fünf Frauenschicksale erzählt, gelegentlich ein paar Männer einbezogen und ein Restaurator betört werden. Es gelingt Dieter Bührig leider nicht immer, die Erzählstränge zu koordinieren und so einen straffen Spannungsbogen aufzubauen. Einen starken roten Faden, der durch das Buch führen würde, gibt es nur andeutungsweise, dafür jedoch viele Fussel. Der ständige Wechsel zwischen Personen und Handlungsorten führt mal zu dieser, mal zu jener Frau. Gedichte sind eingefügt, ein Drehbuch für eine Stummfilmszene. Speziell diese Stummfilmszene wirkt fremd und deplaziert, zerreißt den Lesefluß.
Dabei wird deutlich, dass sich wohl auch der Autor selbst ein wenig in die törichten Jungfrauen verguckt hat. Seine Schilderung ist liebevoll und detailliert. Es wird nachvollziehbar, warum sich der junge Restaurator ebenfalls in die Mädels verliebt. Zauberhaft auch das Szenario, in dem eine der Jungfrauen zum Leben erwacht und durch den Saal tanzt.
Leider gelingt eine solche emotionale Nähe nicht bei allen Protagonisten. Frau Dr. Friederike Fahrenkamp zum Beispiel ist und bleibt Frau Dr. Friederike Fahrenkamp. Schon allein dadurch, dass sie ständig mit vollem Namen und Titel angesprochen wird, entsteht eine Distanz, die der Leser kaum zu überwinden vermag und die das angedeutete Liebesabenteuer unglaubhaft erscheinen lässt. Insgesamt wirkt die Sprache gerade in den Gegenwartsszenen ein wenig steif.
Die Gratwanderung, den fünf Frauen des Geheimbundes einen jeweils eigenständigen Charakter zu verleihen, hat der Autor dagegen souverän gemeistert. Die dazu gehörigen Männer bleiben als Gegenspieler eher blaß, jedoch sind die aus den Beziehungen entstehenden Konflikte für den Leser nachvollziehbar. Hier wird es dann auch durchaus spannend.
Etwas zuviel Schule
Allerdings gibt es immer wieder Passagen im Buch, in denen Dieter Bührig aus der Erzählerrolle fällt und seinen Lesern als Geschichtslehrer entgegentritt:
Der auf Eigeninitiative der Patriziergeschlechter beruhende Handel hatte ebenso ausgedient wie der in den umliegenden Gebieten praktizierte absolutistische Merkantilismus. Angesichts der weltumspannenden Wirtschaftsinteressen hatte jetzt nur noch die klassische Nationalökonomie eine Chance.
Derartige Erläuterungen wären in einem Nachwort besser aufgehoben, aber ein solches gibt es leider nicht. Dennoch gelingt die Schilderung des Lebens im französisch besetzten Lübeck sehr plastisch und versetzt den Leser in die Zeit, lässt ihn die Sorgen vieler Menschen miterleben. In diesem Part des Buches ist auch die Sprache wesentlich lebendiger. Gelegentliche Anachronismen ("auf einen fahrenden Zug aufspringen", "sterile Lappen") kann man als Leser gut verkraften.
Seine Herkunft aus der Welt der Musik kann der Autor nicht leugnen, ebenso wenig wie seine besondere Affinität zum irischen Komponisten John Field. Leider geraten gerade die Schilderungen der Musikszenen immer wieder zu fachlichen Exkursen:
Ein ständig aufs Neue schillernder Rhythmus basierte auf einer komplexen Abfolge von ungewohnten Taktarten, mal ein Siebenviertel, mal ein Zehnachtel, dann wieder eine Mischung aus Sechsachtel- und Dreiviertelgruppen. Die auf den ersten Blick völlig überraschenden Wechsel der Taktschwerpunkte erzeugten eine wilde, fast ekstatisch wirkende Freizügigkeit. Zusammengehalten wurde das Ganze durch eine ostinate Bassfigur, die die Musik wie bei einem temperamentvollen Rundtanz von Höhepunkt zu Höhepunkt trieb.
Vermutlich wird ihm nicht jeder Leser in die Welt der Arpeggi, Ritardandi und Kadenzi folgen können oder wollen. Und das ist schade, wird doch deutlich, wie sehr dem Autor gerade die Musik am Herzen liegt. Ein wenig musiktheoretische Zurückhaltung hätte hier nicht geschadet.
Wer ist töricht? Wer ist klug?
Die Frage zieht sich durch das gesamte Buch: "Warum sind die törichten Jungfrauen eigentlich töricht?", fragt Florian Thormählen ganz am Anfang und das Buch endet mit dem Satz : "Komm, laß uns auch beide töricht sein!".
Warum kommen in dem biblischen Gleichnis nur Frauen vor, die sich - die einen gut, die anderen schlecht - einem Mann unterwerfen?...Kann der Erlöser nicht auch eine Frau sein?
philosophiert der junge Restaurator.
Auch wenn letztendlich nicht das Schicksal der Steinfiguren erzählt wird - die ist auf einer halben Seite abgehandelt - sondern die Geschichte von fünf Frauen zum Beginn des 19.Jahrhunderts, so vermag Die verschollene Jungfrau es doch, den Leser zum Nachdenken anzuregen. Ist es wirklich klug, immer auf jede Lebenslage vorbereitet zu sein? Was wagen wir eigentlich für unsere Ziele, Träume und Wünsche? Und sind jene fünf Frauen, die sich die bezaubernden Steinjungfern zu Beschützerinnen erwählten, wirklich so unklug, wenn sie für ihre Selbstverwirklichung eintreten und dabei ihre Stellung in der Gesellschaft ebenso aufs Spiel setzen wie ihre Freundschaft untereinander? Diese Frage mag sich jeder Leser am Ende des Buches selbst beantworten, ebenso wie die am Anfang des Buches gestellte Frage nach dem philosophischen Hintergrund des Bibelgleichnisses.
Zuvor jedoch wird er mit dem Buch unterhaltsame und durchaus informative Stunden erleben. Und falls er nicht weiß, wer John Field ist, so wird er nach dem Lesen ganz sicher neugierig sein auf dessen Musik.
Der Gmeiner- Verlag hat Die verschollene Jungfrau liebevoll mit Zeichnungen auf der inneren Umschlagseite und einem Lesezeichen (sehr lobenswert!) ausgestattet. Um so bedauerlicher, das demnächst in einem anderen Verlag ein anderes Buch mit dem gleichen Cover erscheinen wird. Den inhaltlichen Qualitäten dieses Buches tut das jedoch keinen Abbruch: lesenswert und unterhaltsam!
Dieter Bührig, Gmeiner
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