Der Dirigent

  • Aufbau
  • Erschienen: Januar 2012
  • 1
  • Aufbau, 2012, Titel: 'The Conductor', Originalausgabe
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Carsten Jaehner
951001

Histo-Couch Rezension vonAug 2012

Beeindruckender Roman um die Entstehung einer Symphonie

Kurzgefasst:

Im Sommer 1941 verlassen die deutschen Soldaten klammheimlich Leningrad. Eine Katastrophe naht: Die Stadt wird belagert, soll dem Erdboden gleichgemacht werden. Der Großteil der Künstler und Kulturschaffenden wird evakuiert. Bis auf Dmitri Schostakowitsch, den wohl berühmtesten russischen Komponisten. Er bleibt, um seine Stadt zu verteidigen. Doch ein anderer wird zum eigentlichen Helden: Karl Eliasberg, Dirigent eines zweitklassigen Radioorchesters. Hungernd und im Angesicht des Todes führt Eliasberg mit seinem Orchester Schostakowitschs "Siebte Symphonie" auf.

 

Leningrad, 1941. Während des Zweiten Weltkriegs wird die Stadt von den Deutschen belagert. Die Essensrationen werden immer knapper, alles wird rationiert, und immer mehr Menschen fliehen aus der Stadt. Auch das kulturelle Leben leidet, nur einige wenige Künstler sind aus den verschiedensten Gründen in Leningrad geblieben. Der Großteil der Kulturschaffenden wird evakuiert, wie beispielsweise das Sinfonieorchester.

Auch Dmitiri Schostakowitsch bleibt in Leningrad, zum Leidwesen seiner Familie. Tagsüber hebt er Gräben aus, nachts arbeitet der schüchterne Komponist an seinem neuesten Werk. Aus einem kleinen Stück wird auf einmal eine grosse, viersätzige Symphonie, seine siebte. In ihr verarbeitet er die Schrecken des Krieges in Leningrad, das Leben der Menschen in der belagerten Stadt, die Luftangriffe der Deutschen und vieles andere mehr.

In Leningrad geblieben ist auch Karl Eliasberg, Dirigent eines zweitklassigen Rundfunkorchesters, das mehr schlecht als recht existiert und in dem es viele Individualisten gibt. Eliasberg hat es schwer, nicht nur mit seinem Orchester, auch mit seiner kranken Mutter und mit seinem Ansehen in der Stadt an sich. Er lernt mehr zufällig Schostakowitsch kennen, und als Schostakowitsch samt Familie nach Moskau evakuiert wird und dort unter grossem Jubel seine Siebte aufführt, erhält Eliasberg den Auftrag von "ganz oben", mit seinem Rundfunkorchester eben diese Symphonie ebenfalls aufzuführen. So werden sogar Soldaten aus dem Krieg abgezogen, damit die "Leningrad Symphonie" aufgeführt werden kann...

Zwei Musiker als Protagonisten

Der Neuseeländerin mit Wohnsitz in Berlin Sarah Quigley ist mit Der Dirigent ein eindrucksvoller Roman gelungen, in dem sie nicht nur die Entstehung und die Aufführungsgeschichte der siebten Symphonie des russischen Komponisten Dmitri Schostakowitsch beschreibt. Die Autorin schafft es, dem Leser ein Abbild der Kriegszeit in Leningrad authentisch zu vermitteln, so dass man mit den Betroffenen unweigerlich mitleiden kann.

Im Mittelpunkt des Romans steht neben dem Komponisten Schostakowitsch und seiner Familie auch der titelgebende Dirigent Karl Eliasberg, weiland Chef des zweitklassigen Rundfunkorchesters in Leningrad. Dieser pflegt zu Hause seine kranke Mutter, und durch seine recht schüchterne und zurückhaltende Art hat er Probleme mit seinen Musikern, die ihm auch gerne mal Paroli bieten und auf der Nase herumtanzen. Sich in Kriegszeiten dagegen zu wehren, wo immer mehr Musiker an die Front abkommandiert werden und er den Musikbetrieb irgendwie aufrecht erhalten muss, fällt ihm schwer. Treffend charakterisiert die Autorin den Dirigenten, der gerne in den entsprechenden Zirkeln mit dazugehören würde, doch fehlen ihm die Kontakte, um in diese Kreise aufgenommen zu werden. Und als es ihm allmählich gelingt, ist aus diesen Kreisen fast keiner mehr da, alle wichtigen Künstler der Stadt wurden evakuiert.

Zurückhaltende Charaktere

Nur Schostakowitsch harrt aus, der sich allerdings in diesen Zirkeln nie wohl gefühlt hat und sich dort deshalb auch nur selten blicken lässt. Ebenfalls zurückhaltend, doch eher aus Angst vor den Repressionen des Staates denn aus Schüchternheit, will er seine neue Symphonie in Leningrad vollenden und schafft somit ein Werk, das eigentlich niemand vor Vollendung zu sehen bekommen darf, doch hin und wieder springt er über seinen Schatten und lässt Bekannte einen Einblick nehmen. Als er bei einer zufälligen Begegnung Eliasberg aus dem Kopf den ersten Satz auf dem Klavier vorspielt, ist dieser wie gefangen und wird das Stück für den Rest seines Lebens nicht mehr vergessen. Der Beginn einer Freundschaft? Kaum, zu verschiedenen sind sie sich trotz einigen gleichen Eigenschaften, und schließlich wird Schostakowitsch doch evakuiert und wird seine Symphonie in Moskau vollenden und uraufführen.

Doch Eliasbergs Chance kommt, als er aufgefordert wird, für eine Rundfunkübertragung, durch die die Bevölkerung von Leningrad aufgemuntert und motiviert werden soll, Schostakowitschs Siebte Symphonie zu dirigieren. Doch woher die Musiker nehmen? Sarah Quigley versteht es, sich in die beiden Hauptcharaktere einzufühlen und begleitet sie durch ihre Leben, ihre Sorgen, Ängste und Nöte.

Ein weitere Hauptperson: Leningrad

Neben den beiden Protagonisten spielen die Zeit und die Stadt im Krieg eine herausragende Rolle. Immer wieder streut die Autorin kleine Geschichten ein, wie es der Bevölkerung geht und wie zum wiederholten die Lebensmittelrationen so sehr gekürzt werden, dass eigentlich niemand mehr überleben kann. Der Winter ist hart, Menschen sterben, und alles wird auf Dauer irgendwie egaler, wichtiges wird unwichtig, und nur der Wille zu überleben zählt. Sarah Quigley erweist sich als gut beobachtende Erzählerin, die ihren Lesern das Leben in der belagerten Stadt nahe zu bringen weiss. Das ist grosse Erzählkunst und beeindruckt von der ersten bis zu letzten Seite.

Neben all den ersten Geschichten beweisen die Protagonisten auch einen gewissen Humor, zumeist Galgenhumor, der einem die Lage etwas erträglicher zu machen scheint. Und obwohl die Autorin nicht die Musik in Worte fassen kann (wer kann das schon), überträgt sich die Faszination von Eliasberg und anderen über die Musik Schostakowitschs auf den Leser, und auch dann, wenn man das musikalische Fachchinesisch (das fast gar nicht verwendet wird) nicht versteht, wird man unweigerlich in den Bann der Erzählung gezogen.

Lobenswerter Anhang

Der Erstauflage des Romans aus dem Hause Aufbau liegt dankenswerterweise eine Aufnahme der Siebten Symphonie Schostakowitschs bei, so dass man als Leser während der Lektüre nachfühlen und -hören kann, wie der Komponist seine Gefühle in Musik gesetzt hat. Weitere Anhänge sind eine Danksagung, biografische Notizen und ein Interview mit der Autorin, das Aufschluss über ihre Arbeit gibt.

Insgesamt ist Der Dirigent ein überaus gelungener Roman, der die Leser in die Kriegszeit des Zweiten Weltkriegs in Leningrad entführt und der einem anhand der Entstehung einer Symphonie die Schrecken des Krieges auf ungewohnte, aber eindrückliche Weise nahe bringt. Der Roman ist ausdrücklich auch für Nichtmusiker geeignet und sollte in keinem Bücherregal fehlen. Sehr empfehlens- und lesenswert.

Der Dirigent

Sarah Quigley, Aufbau

Der Dirigent

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