Der Schieber

  • DuMont
  • Erschienen: Januar 2012
  • 7
  • DuMont, 2012, Titel: 'Der Schieber', Originalausgabe
Der Schieber
Der Schieber
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Jörg Kijanski
901001

Histo-Couch Rezension vonAug 2012

Packende Zeitgeschichte grandios erzählt

Kurzgefasst:

Hamburg 1947: Es ist das Jahr der Extreme. Nach dem bitterkalten Hungerwinter stöhnt die zerbombte Stadt schon im Frühling unter quälender Hitze. Und Oberinspektor Frank Stave wird mit einem neuen Fall konfrontiert. In den Ruinen einer Werft wird die Leiche eines Jungen gefunden. Zusammen mit Lieutenant MacDonald und Doktor Czrisini macht sich Stave auf die Suche nach dem Mörder, und die Ermittlungen führen sie in die Welt der "Wolfskinder" jener elternlosen Kinder, die aus den besetzten Ostgebieten geflohen sind und sich nun zu Banden vereint als Kohlenklauer, Prostituierte und Schmuggler durchschlagen.
Doch nicht nur beruflich sieht Frank Stave sich vor Rätsel gestellt: Mitten in den Untersuchungen steht plötzlich sein Sohn vor der Tür, der aus der russischen Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt ist. Ein schmerzhafter Weg der Annäherung liegt vor ihnen, während Stave zugleich um den Erhalt der Beziehung zu seiner Geliebten Anna kämpft.
Als zwei weitere Leichen entdeckt werden, gerät Stave zunehmend unter Druck. In einer dramatischen Nacht im Hafen soll sich schließlich entscheiden, ob Stave den Täter zu fassen bekommt

 

Hamburg, 30. Mai bis 18. Juni 1947: In einer ungenutzten Fabrikhalle von Blohm & Voss finden Arbeiter einen toten Jungen auf einer 500-Pfund-Bombe der Engländer. Oberinspektor Frank Stave soll die Ermittlungen leiten, doch bevor er sich den Leichnam ansehen kann, ist erst einmal Geduld gefragt, denn es gilt zunächst den hochgefährlichen Blindgänger zu entschärfen. Als die Ermittler den toten Jungen endlich näher untersuchen können, finden sie einen angespitzten Schraubenzieher sowie eine Packung Lucky Strike. Erste Befragungen der Arbeiter gestalten sich als äußerst schwierig, denn die Riesenwerft von Blohm & Voss soll auf Betreiben der englischen Besatzungskräfte stillgelegt werden; zu oft kam es in der Vergangenheit vor, dass die deutsche Werft der englischen Konkurrenz lukrative Aufträge wegschnappte. Entsprechend ist die Stimmung der Arbeiter. Sie fürchten um ihre Arbeitsplätze und sympathisieren offen mit den Kommunisten, dem neuen Feind der Engländer.

Stave findet anhand einer eingegangenen Vermisstenmeldung heraus, dass es sich bei dem Jungen um den 14-jährigen Adolf Winkelmann handelt, der bei seiner Tante und deren Lebensgefährten wohnte. Während er in der Schule meist fehlte, war er stattdessen als Hehler gestohlener Waren recht erfolgreich, doch hatte er scheinbar keine Freunde. So führt Stave eine heiße Spur zu den sogenannten Wolfskindern, elternlose Kinder, die sich auf eigene Faust aus den besetzten Ostgebieten bis nach Hamburg durchgeschlagen haben. Diese leben meist verwahrlost zwischen den Trümmern, wissen oftmals nicht einmal ihre Namen und leben von Kohlenklau, Schmuggel oder der Prostitution.

Stave erhält einmal mehr die inoffizielle Unterstützung des britischen Besatzungsoffiziers James MacDonald, der im Begriff ist, Vater zu werden. Die Mutter ist ausgerechnet Erna Berg, Staves Sekretärin, deren Mann erst vor kurzer Zeit überraschend aus der Gefangenschaft zurückkehrte. Überraschend zurück aus dem Gefangenenlager in Workuta (Sibirien) kehrt auch Karl, womit Stave ein weiteres Problem zu lösen hat. Wie soll er seinem Sohn, dem einst überzeugten Hitlerjungen, gegenüber treten und wie soll es mit seiner Freundin Anna weitergehen? Mehr als genug Probleme für den einsam kämpfenden Oberinspektor, und dabei drängt die Zeit...

Hervorragende Fortsetzung von "Der Trümmermörder"

Der Schieber ist eine mehr als glänzende Fortsetzung des Vorgängers Der Trümmermörder, in dem selbst in vergleichsweise unbedeutenden Nebenrollen alte Bekannte erneut mitwirken. Spielte der "erste Teil" noch vor der bitterkalten Kulisse des Hungerwinters 1946/47, so sind inzwischen die Temperaturen derart angezogen, dass man sich wünscht es würde endlich einmal regnen. Stattdessen tröpfelt aus dem Wasserhahn lediglich röstlich gefärbtes Wasser. Wie bei Cay Rademacher, dem geschäftsführenden Redakteur bei GEO-Epoche, üblich, besticht auch sein aktueller Roman durch eine intensive Schilderung der damaligen Zeit. Die Geschehnisse sind mit Händen greifbar, nur wenigen Autoren gelingt es, ihre Leser derart anschaulich in eine andere Zeit zu versetzen.

So geht es in Der Schieber auch gar nicht primär um die Auflösung des Mordes, sondern um die Darstellung der bedrückenden Lebensverhältnisse in den Nachkriegsjahren. Der Schwarzmarkt floriert auf Hochtouren, obwohl man dort meist nur drittklassige Ware bekommt. Aber immerhin, man kann sich mit dem Nötigsten behelfen. Dies weis vor allem Staves Sohn Karl zu schätzen, der in der russischen Gefangenschaft nur von Kohl und schimmeligem Brot lebte.

 

 

"Das ist mein Geldersatz. Man kommt mit Zigaretten weiter auf dem Schwarzmarkt als mit Reichsmarkscheinen."

"Genau wie im Gefangenenlager."

"Heute bekommst du weder Kohl noch schimmeliges Brot."

"Sondern Brennnesselsuppe und Walfischwurst."

 

Dazu als "Dessert" zwei Scheiben bröseliges Graubrot mit rötlich schimmernder Ersatzmarmelade. Doch dies erscheint fast noch paradiesisch angesichts der Tatsache, dass mehrere hundert Kinder zwischen sechs und vierzehn Jahren als "Wolfkinder" irgendwo versteckt und verwahrlost in den Trümmern leben. Sehr eindringlich zeigt der Autor deren Schicksal am Beispiel der 14-jährigen Hildegard, die - nach dem Tod ihrer Eltern und von den Russen misshandelt - sich irgendwie nach Hamburg durchschlagen konnte, nur um hier als Prostituierte ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.

Zeithistorisch ein unbedingt lesenswertes Buch, dass aber auch die damals bescheidenen Möglichkeiten der polizeilichen Ermittlungsarbeit umfangreich darstellt. Dazu wird den privaten Problemen des Protagonisten (Heimkehr des Sohnes, ungeklärtes Verhältnis zu seiner Geliebten) ausreichend Platz eingeräumt, so dass Der Schieber in jeder Hinsicht überzeugt.

Der Schieber

Cay Rademacher, DuMont

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