Schlafwandler
- Aufbau
- Erschienen: Januar 2010
- 2
- Aufbau, 2010, Titel: 'The Sleepwalkers', Originalausgabe
Der braune Horror nimmt Gestalt an
Kurzgefasst:
Berlin im Winter 1932. Inspektor Kraus ist bei der Berliner Polizei eine Legende. Im Weltkrieg war er ein Held, und nun hat er einen gefährlichen Kinderschänder gefasst. Doch als Jude sieht er die Entwicklung in Deutschland mit größter Besorgnis, zumal er Kontakte zu den höchsten Kreisen hat und weiß, was von Hitler zu erwarten ist. Als in der Spree eine Frauenleiche gefunden wird, ruft man Kraus. Die junge Frau ist schon länger tot. Auffällig sind die Wunden an ihren Beinen. Man hat ihr die Knochen unter dem Knie abgetrennt. Wenig später verschwindet die Prinzessin von Bulgarien aus dem Hotel Adlon, und Kraus erhält von Hindenburg persönlich den Auftrag, sie zu finden. Er glaubt an einen eher harmlosen Kriminalfall - doch er wird auf dramatische Weise eines Besseren belehrt.
1932. Willi Kraus ist der letzte jüdische Polizist der Berliner Kriminalpolizei und wird mit einem besonders grausamen Verbrechen konfrontiert. Eine junge Frau wurde in der Havel unterhalb der Zitadelle in Spandau aufgefunden. Ihr Anblick verschlägt selbst Kraus, der im Ersten Weltkrieg hinter den feindlichen Linien gekämpft und dort viel gesehen hat, den Atem. Von den Knien bis zu den Knöcheln weisen die Beine der Frau nach hinten. Die Untersuchung durch den Rechtsmediziner Dr. Hoffnung ergibt, dass durch eine Transplantation die beiden Wadenbeine ausgetauscht wurden. Zeit bleibt Kraus jedoch nicht, denn er soll sich beim "Alten" persönlich melden. General Paul von Hindenburg hat einen Spezialauftrag für ihn, denn die bulgarische Prinzessin Magdelena Eugenia ist spurlos verschwunden, nachdem sie nachts plötzlich ihr Hotel Adlon verlassen hatte, angeblich um Zigaretten zu holen. Ein Gespräch mit ihrem Ehemann ergibt, dass beide am Abend ihres Verschwindens in einem Nachtclub waren, wo der berühmte Mystiker Gustave einen Auftritt hatte. Gustave ist bekannt für seine großartigen Hypnosenummern, an denen auch die Prinzessin als Freiwillige teilnahm.
Eine erste Spur führt Kraus in eine Gaststätte nach Spandau, die sich allerdings als Treffpunkt der Nazis entpuppt, so dass er dort als Jude zunächst nicht weiter kommt. Zusammen mit seinem Assistenten Gunther findet er heraus, dass der Berliner Mediziner Dr. Meckel eine Arbeit über Knochentransplantationen verfasst hat. Es zeigt sich, dass Meckel ein SA-General ist und Gustave den aufstrebenden braunen Kräften mittels Hypnose junge Frauen zukommen lässt. Während die bulgarische Prinzessin unauffindbar bleibt, findet Kraus derweil heraus, dass bereits zahlreiche Frauen verschwunden sind. Da ihm inzwischen die Braunhemden unter Druck setzen, wendet er sich an Kriegsminister von Schleicher, um weiter ungestört arbeiten zu können. Dabei ahnt Kraus nicht, dass er in jeder Hinsicht in ein wahres Wespennest gestoßen hat und nicht nur für ihn die Luft immer dünner wird...
Ein Betrunkener schrie unaufhörlich aus dem Fenster: "Frohes 1933! Frohes 1933!"
Gelungene Fortsetzung
Während Kindersucher in den Jahren 1929/30 spielt, setzt Schlafwandler in den Jahren 1932/33 die "Serie" fort, wobei schnell klar wird, dass es keinen dritten Teil geben kann. Denn während in der Romanhandlung noch eifrig darüber diskutiert wird, ob sich Hitlers Chargen als Eintagsfliegen entpuppen, endet der Plot einige Zeit nach Hitlers Machtergreifung und mit der Flucht von Kraus aus Deutschland. Dies kommt freilich nicht überraschend, endete schon Kindersucher damit, dass Kraus ein neues Leben in Tel Aviv begonnen hatte.
Wie schon bei Kindersucher kommt Kraus Verbrechen von nahezu unvorstellbaren Ausmaßen auf die Spur, die sich "im echten Leben" erst einige Jahre später im Dritten Reich tatsächlich zugetragen haben, nur, wie hinreichend bekannt, in einer noch grauenhafteren Dimension. Auch bei Schlafwandler liefern sich Krimiplot und Zeitgeschichte ein packendes Duell, bei dem im vorliegenden Fall die Darstellung der Geschehnisse rund um Hitlers Machtergreifung mehr beeindruckt als die zunächst wenig erfolgreiche Polizeiarbeit. Vor allem das Portrait der Stadt Berlin zu jener Zeit beeindruckt.
Dieses Berlin der Weimarer Republik, das von den Jahren des Krieges, der Niederlage, der Revolution, der Inflation und jetzt der Depression gebeutelt wurde, in dem fast vier Millionen Menschen arbeitslos waren, dessen Regierung wie paralysiert schien und in dem es vor Lasterhaftigkeit drunter und drüber ging ... Sexverrückte, Serienkiller, Schlägertrupps der Rot- und Braunhemden, die sich um die Kontrolle auf den Straßen prügelten ... diese Stadt, die das Ende der Fahnenstange erreicht hatte, die kein Morgen kannte, die am Rand des Abgrunds taumelte ... der Diktatur ... selbst in dieser Stadt war das ein Bild des blanken Horrors.
Gab es bei Kindersucher noch kleine Nadelstiche gegen jüdische Einwohner, so machen die Nazis jetzt schon lange keinen Hehl mehr aus ihren wahren Absichten. Die Straßenschlachten mit den Kommunisten werden täglich heftiger und so sieht sich Kraus genötigt, zumindest seine Familie ins benachbarte Ausland zu bringen, nachdem er sich als Karikatur im "Stürmer" wiederfindet. Er selber lernt derweil eine Frau kennen in die er sich verliebt, doch handelt es sich dabei ausgerechnet um eine Prostituierte. Die "Stiefelhure" Paula erobert Krauses Herz, obwohl beiden klar ist, dass ihre Zuneigung auf Dauer keinen Erfolg haben wird. Als sich Paula schließlich als Lockvogel anbietet, ahnt Kraus bereits, dass er einmal mehr einen schweren persönlichen Verlust erleiden wird.
Sieh dir nur Hitler an! Ein Meister der Hypnose. Der Mann ignoriert sämtliche Logik und wendet sich direkt an das Unterbewusstsein. Seine Reden sind vollkommen sinnlos. Aber sinnvoll müssen sie auch nicht sein.
Schlafwandler ist ein packender, aber auch erschütternder zeitgeschichtlicher Roman, in dem mehrere Nazigrößen ihren Auftritt haben. Wer Kindersucher gelesen hat (und diesen Roman sollte man unbedingt vorher lesen, nicht nur wegen der Chronologie, auch wenn er später erschienen ist), wird etliche Nebenfiguren wiederfinden. So ist Schlafwandler nicht nur ein lesenswerter Kriminalroman, sondern zugleich eine mehr als gelungene Fortsetzung. Aber Achtung: Ein "Happy End" oder dergleichen dürfen Sie bei Paul Grossman nicht erwarten.
Paul Grossman, Aufbau
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