Die tausend Herbste des Jacob de Zoet
- Rowohlt
- Erschienen: Januar 2012
- 1
- Rowohlt, 2010, Titel: 'The Thousand Autumns of Jacob de Zoet', Originalausgabe
An Nichtwissen sterben
Kurzgefasst:
Japan, 1799: Der junge Jacob de Zoet kommt mit einer Gruppe Handelsabgeordneter aus Niederländisch-Indien auf die Insel Dejima im Hafen von Nagasaki. Obwohl verheiratet, verliebt er sich bald unsterblich in die Hebamme Orito Aibagawa. Ihre Verbindung steht aber unter keinem guten Stern, denn Ausländern ist es verboten, das japanische Festland zu betreten. Weiterer Ärger droht, als Jacob sich gegen seine Vorgesetzten stellt und sich weigert, das gefälschte Verzeichnis einer Schiffsladung zu unterzeichnen. Aber auch Oritos Schicksal nimmt eine schreckliche Wendung ...
Die Edo-Ära im Japan an der Wende zum 19. Jahrhundert. Die Niederländische Ostindien-Kompagnie (Vereenigde Oost-Indische Compagnie) betreibt eine Handelsniederlassung auf Dejima, einer künstlich angelegten, fächerförmigen Insel in der Bucht von Nagasaki. Dejima ist über eine stark bewachte Brücke mit Nagasaki verbunden. Die Niederlassung ist Nagasakis einziger Kontakt zum Rest der Welt. Nur ranghohe Niederländer dürfen auf das Festland. Die Kontakte von Japanern zu Europäern werden streng überwacht. Es ist ein Kapitalverbrechen, wenn ein Japaner das Festland ohne Erlaubnis verlässt oder ein Dolmetscher einem Ausländer Sprachunterricht erteilt. Japan hat keine eigene Marine, der Einfluss der Niederlande in der Region befindet sich im Schwinden, die Briten, im Krieg mit den Niederländern, wollen japanischer Handelspartner werden.
Der junge niederländische Revisor Jacob de Zoet wird von seinem Vorgesetzten, dem Faktor Vorstenbosch beauftragt, Hinweise auf Korruption zu suchen, indem er die Hauptbücher von 1793-1798 mit denen der japanischen Handelspartner abgleicht. Nur zwei Männer mögen Jacob: Der japanische Literaturliebhaber und Oberdolmetscher Uzaemon, weil Jacob ihm seine Kopie von Adam Smiths Buch "Der Wohlstand der Nationen" leiht, und der Arzt Dr. Marinus, der japanische Studenten in die Grundlagen der westlichen Medizin einführt. Die einzige Frau unter den Studenten ist die narbengesichtige Orito Aibagawa.
Ein zweifach isolierter Held
In diesem Umfeld gerät Jacob in zwei gefährliche Situationen. Als Revisor, der Fälle von Korruption und Diebstahl aufdecken soll, ist er so erfolgreich, dass er in die (nahezu) vollständige Isolation abrutscht. Als er sich in Orito Aibagawa verliebt, verschärft sich seine bedrohliche Lage. Er gerät in ein Netz aus Politik, Traditionen einer fremden Kultur und juristischen Problemen. Weder weiß er, ob Orito seine Gefühle erwidert, noch würde eine Verbindung zwischen einem Europäer und einer Japanerin geduldet.
Nach dem Tod ihres Vaters wird Orito an den Orden des Fürstabts Enomoto verkauft. Der Orden praktiziert sexuelle Sklaverei. Jacob und Uzaemon, die beide Orito lieben, wollen sie aus dem Griff des Ordens befreien. Uzaemon stellt ein Befreiungskommando zusammen, Jacob unterstützt ihn im Rahmen seiner geringen Möglichkeiten.
Kulturelle Unterschiede bestimmen den Umgang
Während Autor David Mitchell die Isolation Jacobs deutlich herausarbeitet und die Männer auf der Insel facettenreich beschreibt, hält er sich in der Charakterisierung der Japaner vergleichsweise zurück, wodurch sie für uns Leser ähnlich fremd und mysteriös bleiben wie für die Europäer auf Dejima.
Im ersten Teil seines Romans entwirft Mitchell den Handlungsort und dessen Personal. Jacob erscheint hier als gläubiger Christ, im Gegensatz zu den anderen Europäern, die nur formell Christen sind, ihre über Sozialisierung und persönliche Verfeinerungen herausgebildeten Vorstellungen von Untermenschen leben, in einigen Fällen als Sklavenhalter. Jacob als moralischer Mensch verhält sich in einem Umfeld der Unmoral, ist eingesperrt in einer Palisadenfestung.
Die Japaner haben sich gegen die Ausländer abgeschottet, versuchen ihre Isolationspolitik zu verbinden mit den Vorteilen wirtschaftlicher Austauschbeziehungen, in dem Bemühen, die Korruption ihrer Kultur zu verhindern. Sie setzen zudem ausgewählte Japaner ein, über Lernprozesse am Fortschritt der Fremden teilzuhaben.
Mitchell gibt japanischen und europäischen Perspektiven auf das jeweils Fremde Raum, arbeitet mit rassistischen und chauvinistischen Stereotypen, indem er sie innerhalb der Erzählung thematisiert und auseinandernimmt. Er zeigt auch, welchen verführerischen Reiz manche dieser Konstrukte auf Menschen ausüben können. Und so begegnen wir der Arroganz der Europäer, die ihre äußere Begründung aus dem Stand der technischen Entwicklungen (Medizin, Waffen) zieht, und Mitchell verwendet dabei bekannte kulturelle Stilfiguren wie Dr. Fu Man Chu, der für den Abt ein Vorbild gewesen sein mag.
Kommunikation mit Hindernissen
Die tausend Herbste des Jacob de Zoet hat ein wichtiges Thema, das auf intelligente Weise mit der Handlung verbunden ist: Sprache. Die japanischen Herrscher versuchen den Kontakt mit den Europäern über ihre Dolmetscher zu steuern, die ein Fenster zur Welt sind. Im Roman gibt es mehrere Gespräche zwischen Diplomaten des niederländischen und japanischen Sprachraums, wie auch Diskussionen über die Bedeutung und Möglichkeiten der Übersetzung bestimmter Begriffe und Phrasen. Man bekommt ein Gefühl dafür, wie sprachliche Probleme politische Probleme nach sich ziehen können, wie schwierig es ist, eine Kommunikation unter Verwendung von sprachlichen Verschlüsselungen (Metaphern...), den darin teils gewollt enthaltenen Möglichkeiten für die Erzeugung von Täuschungen und Missverständnissen aufzubauen. Gelegentlich kommt es zu Gesprächen mit Verlusten und Fehlern in der Übersetzung, die den Eindruck vermitteln, das Schicksal von Menschen, vielleicht auch von Nationen, werde bestimmt durch Mutmaßungen darüber, was ein Gesprächspartner gemeint haben könnte.
Ein Glücksfall für den historischen Roman
Mitchell taucht tief ein in die fremdartige Welt, liefert historische Informationen, die diese Welt vor heutigen Lesern sich entfalten lassen und entspricht damit dem Standard des historischen Romans. Wir lesen detaillierte Beschreibungen von historischen medizinischen Vorgängen, wie einer problematischen Geburt, einmal durch die Lage des Kindes, dann durch die Handlungsbeschränkungen, die es dem europäischen Arzt verbieten, mehr von der japanischen Frau zu sehen, als im Alltag üblich. Wir werden lesend Zeugen der äußerst schmerzhaften Entfernung eines Blasensteins und freuen uns über die Fortschritte der Medizin seit dem frühen neunzehnten Jahrhundert. Wir erleben eine öffentliche Hinrichtung von Dieben mit, die politisch motiviert ist. Als die britische Fregatte "Phoebus" vor Dejima auftaucht, gibt es weitere Verwicklungen, Machtspiele, Demütigungen und eine eigenartige Seeschlacht sehr ungleicher Gegner. Manches davon entwickelt Mitchell bis kurz vor den Höhepunkt und bricht dann einfach ab. Es mag manche Leser stören, wenn die Seeschlacht detailliert beschrieben wird, dann wie bei einem Cliffhanger abgebrochen wird und wir im nächsten Abschnitt das Ergebnis erfahren.
Die tausend Herbste des Jacob de Zoet erzählt seine Geschichte recht geradlinig. Wen es nicht stört, dass die Hauptfigur nach rund 150 Seiten für noch mehr Seiten aus der Geschichte vorübergehend verschwindet, sieht man einmal von einem kürzeren Gespräch ab, den erwartet ein herausragender historischer Roman von einem der herausragenden Gegenwartsautoren.
David Mitchell, Rowohlt
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