Die Verfehlungen einer Lady
- Bloomsbury
- Erschienen: Januar 2012
- 0
- Bloomsbury, 2012, Titel: 'Mrs Robinson's Disgrace: The Private Diary of a Victorian Lady', Originalausgabe
Von der Geschichte der Scheidungen
Kurzgefasst:
Im Jahr 1844 heiratet Isabella - eine temperamentvolle, jung verwitwete Frau - den Geschäftsmann Henry Robinson und gebiert ihm zwei Söhne. Doch die Ehe ist freudlos. Henry ist häufig auf Reisen, daheim wirkt er kalt und abwesend. Ein trostloses Leben, wären da nicht Edinburghs Salons, in denen Isabella intellektuellen und emotionalen Zuspruch findet. Dort lernt sie eines Tages Edward kennen, den Schwiegersohn der Gastgeberin, und verliebt sich unsterblich in ihn. Erwidert der charmante Arzt ihre Gefühle? Oder zeigt er ihr die kalte Schulter? Sehnsucht und Verlangen, Hoffnung und Verzweiflung - Isabella taumelt von einem Gefühl in das andere und kann sich niemand anderem anvertrauen als ihrem Tagebuch. FünfJahre lang schreibt sie dort ihre intimsten Fantasien nieder - bis Henry das Tagebuch entdeckt und sie wegen Ehebruchs verklagt. Was folgt, ist der größte Skandalprozess, den England je erlebt hat.
"... für eine arme Frau ist der Ehestand ein sehr zweifelhaftes Glück" (Queen Victoria)
Im Jahr 1844 heiratet Isabella Dansey, eine einunddreißigjährige wohlhabende Witwe mit Kind, den Bauingenieur und Unternehmer Henry Robinson. Das Paar lebt zunächst in London, wo Isabella zwei weitere Söhne zur Welt bringt. Henry reist geschäftlich viel, zu Hause ist er abweisend und gemein. Isabella ist einsam und beginnt 1849 Tagebuch zu schreiben. Als die Familie nach Edinburgh zieht, findet Isabella im Salon von Lady Drysdale die intellektuelle und emotionale Stimulanz, die Henry ihr nicht geben kann. Sie verliebt sich in Lady Drysdales Schwiegersohn Edward Lane, einen Juristen und späteren Arzt, und verbringt viel Zeit mit dem zehn Jahre jüngeren, attraktiven Mann. 1854 ziehen die Robinsons nach Reading. Im gleichen Jahr eröffnet Edward eine Klinik für Hydropathie (Wasserkuren) im nur zwanzig Meilen entfernten Moor Park, wo Isabella ihn und seine Familie oft besucht, zuerst als Gast, später auch als Patientin.
Im Mai 1856 findet Henry das Tagebuch und erfährt, wie sehr Isabella ihn hasst, dass sie in zwei Lehrer ihrer Söhne, John Thom und Eugene Le Petit, verliebt gewesen ist, und seit 1854 eine Liaison mit Edward Lane hat. Die Ehe wird 1857 nach alten Recht ohne viel Aufsehen getrennt "von Tisch und Bett", aber aus Kostengründen nicht geschieden.
Als 1858 das Scheidungsrecht reformiert wird, um Scheidungen auch für die Mittelschicht erschwinglich zu machen, beantragt Henry die Scheidung. Da das neue Scheidungsgericht die Prozesse öffentlich führt, kommt es zu einem Schauprozess. Isabellas Tagebücher und Briefe werden verlesen und das Leben der Lanes, der Robinsons und viele ihrer Freunde und Bekannten ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt. Dabei geht es auch um die Frage, inwieweit das Tagebuch ein authentisches Dokument ihres Ehebruchs darstellt oder das Phantasieprodukt einer Frau ist, die schwärmerisch oder literarisch veranlagt oder gar wahnsinnig geworden ist. Henrys Untreue steht nie zur Debatte, das viktorianische Recht misst mit zweierlei Maß.
Wie kann eine Frau das nur tun?
Anhand von Prozessberichten, Briefen und Tagebüchern entsteht das Bild einer Frau, die intelligent, ehrgeizig und phantasievoll ist, leicht erregbar und depressiv, leidenschaftlich und voller Ängste. Isabella selbst nennt sich unstet und übt Selbstkritik an ihrer Anhänglichkeit und ihrem Bedürfnis nach Anerkennung und Liebe. Sie begeistert sich für Kunst und Wissenschaft und motiviert Edward, Aufsätze für wissenschaftliche Zeitschriften zu verfassen. Auch an Henrys Leben und Arbeit möchte sie teilhaben, doch er schließt sie systematisch aus.
Die Frau hatte ihrem Mann zu gehorchen, auch wenn er ein schlechter Mensch war, und ihn zu bewundern, auch wenn er ein Dummkopf war. Beides traf (nicht nur) nach Isabellas Ansicht auf ihren Mann zu, der sie aus finanziellen Gründen geheiratet hatte. Ihre Meinung über ihren Mann äußert sie drastisch und klar, in ihren amourösen Schilderung dagegen bleibt sie stets vage, uneindeutig.
Die Verfehlungen einer Lady zeigt eine Frau, die an den starren Konventionen und Ungerechtigkeiten des Systems, der Doppelmoral einer Ehe und dem engen Gerüst ihrer Tugend und Pflichten zu zerbrechen droht. Das neue Scheidungsrecht trat eine Lawine an Prozessen los und machte deutlich, wie es hinter den Tüllgardinen und Schlafzimmertüren der bürgerlichen Mittelschicht wirklich aussah. Da alles genüsslich von der Presse ausgebreitet wurde, bat Queen Victoria mit Blick auf die jungen Leser, einige der Scheidungsgeschichten zu unterdrücken, um nicht den letzten Rest an guten Sitten zu verderben. Sie beklagte die Situation der verheirateten Frau und äußerte eine grundlegende Skepsis gegenüber der Ehe.
Kauterisieren ist auch keine Lösung
Das Buch liefert einen Einblick in bürgerliche Ansichten über Weiblichkeit und Moral, über die Institutionen Ehe, Justiz und Kirche und nicht zuletzt über die medizinischen Entwicklungen im Viktorianismus. So erfährt der Leser nebenher die Geschichte des Arztes George Drysdale, dem Freund und Schwager Edward Lanes. Drysdale litt an einer Sexualneurose. Mit fünfzehn entdeckte er die Masturbation, die mit körperlichen und seelischen Gefahren stigmatisiert wurde. Da er dem "Laster" immer mehr verfiel und befürchtete, von seinen Trieben beherrscht zu werden, fingierte er seinen Tod. In Ungarn ließ er seinen Penis mehrmals kauterisieren. Dabei wurden die Nervenenden mit einer in ätzender Flüssigkeit getauchten Nadel abgetötet, die in die Harnröhre geschoben wurde. Auch das brachte keine Lösung. George studierte Medizin und kam zu der Erkenntnis, das die Ärzte Onanie nicht heilen konnten und es daher nur eine Lösung gab: Sex. Als Student veröffentlichte er 1854 ein radikales Buch über Sex, Physical, Sexual, and Natural Religion (überarbeitet und wiederaufgelegt als The Elements of Social Science), selbstredend nicht unter seinem richtigen Namen, sondern als "A Student of Medicine".
Schließlich erzählt das Buch die weitere Entwicklung der Hauptakteure nach dem Prozess, es endet mit Anmerkungen, Bibliographie, Danksagung und Register.
Fazit
Die Verfehlungen einer Lady malt ein Zeitbild der viktorianischen Gesellschaft anhand der wahren Geschichte einer Frau, die den größten Skandalprozess Englands auslöste. Geschickt vereint die englische Autorin Kate Summerscale die Genauigkeit eines Sachbuchs mit der Lesbarkeit eines Romans.
Kate Summerscale, Bloomsbury
Deine Meinung zu »Die Verfehlungen einer Lady«
Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!