Orfanelle

  • Braumüller
  • Erschienen: Januar 2012
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  • Braumüller, 2012, Titel: 'Orfanelle', Originalausgabe
Orfanelle
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Carsten Jaehner
891001

Histo-Couch Rezension vonOkt 2012

Das Leben der Mädchen im Waisenhaus Venedigs

Kurzgefasst:

Venedig, die "Serenissima", feiert ihren Abschied von der Weltbühne mit einem grandiosen Fest, in dem Luxus, Promiskuität, Geldgier, Spielsucht, Oper und Konzerte die Hauptrollen spielen. Antonio Vivaldi und das Mädchenorchester der Pietà ... Die Folgen dieses immerwährenden Karnevals sind Hunderte von Kindern, die verkauft oder weggelegt werden - die Knaben als billige Arbeitskräfte aufs Festland, die Mädchen verschwinden anonym hinter den Babyklappen der Waisenhäuser. Sie werden zu Krankenschwestern, Mägden oder Nonnen erzogen und viele von ihnen schiffsladungsweise als Siedlerbräute nach Übersee verkauft. Die Begabtesten aber werden zu Musikerinnen ausgebildet. Orchester entstehen, die von den berühmtesten Komponisten unterrichtet und mit eigens für sie geschaffenen Werken versorgt werden. So schreibt Antonio Vivaldi (1678-1741), der rothaarige Priester mit dem Liturgiedispens, seine brillantesten Oratorien und Konzerte (u.a. auch Die vier Jahreszeiten) für die Waisenhausmädchen des Ospedale Santa Maria della Pietà, genannt Orfanelle, und feiert mit ihnen seine größten internationalen Triumphe.

 

Nachdem in Venedig im Jahr 1348 nach der Großen Pest alle das Recht haben, Masken zu tragen, was erst von Napoleon aufgehoben werden wird, steigen die Geburtszahlen von unehelichen Kindern unermesslich. Die Knaben werden Arbeitskräfte, die Mädchen kommen in Waisenhäuser wie das Ospedale della Pietà, wo sie zu Krankenschwester, Nonnen oder Mägden ausgebildet werden und auch in grossen Schiffsladungen als Ehefrauen nach Übersee verschickt werden.

Besonders begabte Mädchen werden allerdings zu Musikerinnen ausgebildet, und so ist das Orchester des Ospedale eines der Besten in der gesamten Region. Immer wieder werden Musikerinnen aus dem Orchester herausgekauft, um daraufhin Fürsten und Königen zu dienen, und das nicht nur als Musikerinnen. Im Jahr 1720 kann das Ospedale mit dem Komponisten und ehemaligen Priester Antonio Vivaldi eine Berühmtheit zurückholen, und er erobert neben vielen Herzen der Stadt und der Fürsten auch diverse Frauenherzen.

Das Mädchen Anna ist eine hervorragende Sängerin und singt nicht nur in Messen, sondern auch zunehmend in Opernhäusern, was den Nonnen des Ospedale natürlich ein Dorn im Auge ist. Ihre Freundin Pelegrina spielt Violine, und ihr zu Ehren schreibt Vivaldi sein mit berühmtestes Stück "Die vier Jahreszeiten". Doch Erfolg macht gierig, und so sind viele Fürsten und Könige bereit, Unsummen zu bezahlen, um die Mädchen freizukaufen und sie an ihre Höfe zu holen. Die Freundinnen werden voneinander getrennt, und es steht in den Sternen, ob sie sich je wiedersehen. Vivaldi indes macht Karriere in ganz Europa und kann sich vor Aufträgen und Erfolgen nicht retten. Anna wird seine Geliebte, doch ist sie deswegen nicht unbedingt überall gut angesehen. Und der viel ältere Vivaldi ist auch nicht mehr der gesündeste...

Eindrucksvolle Beschreibungen

Franz Winter beschreibt in seinem historischen Roman Orfanelle ein Venedig, das sich bunt und gleichzeitig in den Waisenhäusern kalt und furchteinflössend gibt. Wie in Fabriken sind sie in grossen Sälen untergebracht, bis zu tausenden pro Waisenhaus, und so ist es verständlich, dass nicht jedes Mädchen eine Individualität bekommt. Als Nachnamen, wenn denn der richtige nicht überliefert ist, dient die jeweilige Tätigkeit oder bei den Musikerinnen das Instrument. Franz Winter beobachtet mit wachsamem Auge das Geschehen im Ospedale und beschönigt nichts.

Überhaupt ist der Autor vor allem sprachlich überzeugend. Und das, obwohl er bisweilen Absatzweise Sätze und Nebensätze ineinander verschachtelt, gespickt mit blumigen Formulierungen und ausschweifenden Beschreibungen, die es dem Leser gelegentlich schwer machen, den ursprünglichen Sinn und Inhalt des Satzes im Ganzen zu erfassen. Doch dies ist auch gleichzeitig eine Stärke, denn somit fängt er jede noch so kleine Beobachtung ein, die dem Leser das treffende Bild vor Augen malen, das vom Autor beabsichtigt ist.

Verbotene Freundschaft

Das Leben der Mädchen im Ospedale ist rührend umschrieben, sie hatten es nicht leicht, und wenn sie Pech hatten, wurden sie, Dutzendware gleich, nach Übersee verschachtert, um dort ihren Anteil am Wachstum der Bevölkerung zu leisten. Glücklich waren, wenn überhaupt, nur die Musikerinnen, und Vivaldis Persönlichkeit tat ihr übriges daran. Alle Mädchen bewunderten ihn, und er kannte sie und schrieb ihnen Musik auf den Leib, seine originalen Handschriften verkauften sich besser als Frischware auf dem Markt, und das zu horrenden Preisen. Kein Wunder, dass die Nonnen des Hauses neidvoll auf ihn blickten. Anhand von zwei Mädchenschicksalen beschreibt der Autor das Leben der Zeit, und diese beiden dürften keine Einzelfälle gewesen sein, wenngleich sie mehr Glück hatten als andere.

Sprachlich fordernd

Anna und Pelegrina entwickeln eine Freundschaft, die sogar in eine Art Liebesverhältnis mündet, das leider von der Oberin beobachtet wird, so dass eine der beiden schon bald den Weg aus dem Ospedale machen wird. Franz Winter lässt auch die zwischenmenschlichen Aspekte nicht aus, und so entsteht ein Gesamtbild des Ospedale, das so realistisch ist, dass man froh sein kann, nicht ebenfalls eine der Orfanelle, wie die Waisenmädchen genannt werden, sein zu müssen.

Der Autor versteht es, den Leser in die Zeit zu versetzen und beschreibt mit wenigen, aber wohl formulierten Worten die Stadt und ihre Bewohner, die ja gerade in Venedig doch etwas besonders sind. Ein kommentiertes Personenverzeichnis und eine Auflistung der erwähnten Musikstücke ergänzen einen Roman, der es dem Leser nicht immer leicht macht, der die Lektüre aber in jedem Fall lohnt. Man sollte den Roman möglichst ohne grosse Unterbrechungen lesen, was bei einer Seitenzahl von 230 nicht schwer fallen sollte. Der Leser wird gefordert, gerade die blumigen Formulierungen fordern einige Aufmerksamkeit. Wer sich jedoch daran wagt, wird mit einem besonderen Roman belohnt werden, der in ein eindrucksvolles Venedig entführt und Schrecken und Möglichkeiten der Zeit ausleuchtet. Lesenswert.

Orfanelle

Franz Winter, Braumüller

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