Das Mädchen, das den Himmel berührte
- Lübbe
- Erschienen: Januar 2013
- 4
- Lübbe, 2012, Titel: 'La ragazza che toccava il cielo', Originalausgabe
Facettenreicher Roman mit viel Potential
Kurzgefasst:
Wie wird ein junger Tagedieb, der seine Kindheit in einer Höhle verbracht hat, zu einem glühenden Verfechter der Freiheit? Wie wird ein jüdischer Betrüger zu einem berühmten Arzt? Und wie wird ein junges Mädchen ohne Perspektive zu einer einflussreichen Modeschöpferin? Die Antwort liegt in Venedig. Denn dort, im Labyrinth der Gassen und Kanäle der geheimnisvollsten Lagune Europas, zwischen der Pracht San Marcos und dem Elend der Spelunken von Rialto findet sich das gesamte Panorama des Lebens.
Ein Raubüberfall auf einen jüdischen Kaufmann stürzt im Rom des 16. Jahrhunderts die jugendlichen Gauner Benedetta, Zolfo und Mercurio ins Unglück, bei dem der Vierte im Bunde, Ercole, stirbt. Mercurio geht davon aus, den Kaufmann Shimon Baruch im Kampf unglücklich verletzt und getötet zu haben. Zusammen mit Zolfo und Benedetta flüchtet Mercurio nach Venedig. Unterwegs trifft das Trio auf einen Trupp heimkehrender Soldaten, die vom jüdischen Arzt Isacco und dessen Tochter Giuditta begleitet werden. Mercurio fühlt sich zur jungen Jüdin hingezogen, was nicht nur den Unmut von Isacco hervorruft, sondern auch den Hass Benedettas, die sich selber Hoffnungen auf Mercurio gemacht hat. In Venedig angekommen verlieren sich zunächst die Wege der Reisenden. Isacco und Giuditta haben nicht damit gerechnet, dass sie bald schon zu einer verfolgten Menschengruppe gehören und ins jüdische Ghetto gesperrt werden. Mercurio hingegen schließt sich dem Verbrecher Scarabello an, Benedetta wird die Geliebte eines einflussreichen Mannes und Zolfo Jünger eines Hasspredigers, der die Menschen gegen die Juden aufwiegelt. Das Schicksal führt die Gruppe aber immer wieder zusammen und bedeutet für die einen Erfüllung ihrer Wünsche und für die anderen Erfüllung ihrer schlimmsten Befürchtungen. Mercurio erkennt, dass Giuditta und er nur eine Zukunft haben können, wenn er sie von Venedig weg bringt. Er träumt von der neuen Welt und davon, ein Schiff zu haben, mit dem er mit Giuditta aufbrechen kann. Doch da wird die junge Jüdin der Hexerei bezichtigt und festgenommen. In einem Schauprozess soll ihr Todesurteil fallen. Und Mercurio weiß, dass er kaum eine Chance hat, sie zu retten.
Liebeserklärung an Venedig
Der Autor Luca Di Fulvio hat eine ganz besondere Beziehung zu Venedig. Dies wird in seinem zweiten Roman, der ins Deutsche übersetzt worden ist, deutlich. Obwohl er die Stadt mit ihren Abgründen und dem zunehmenden Hass gegen die Juden ohne rosarote Brille zeichnet, ist der Roman Das Mädchen, das den Himmel berührte eine eigentliche Liebeserklärung an die Lagunenstadt. Mit großem Flair für die Details geht Di Fulvio ans Werk und serviert dem Publikum einen opulenten Roman, der kaum Wünsche übrig lässt. Mit Erstaunen werden viele die Gründung des Juden-Ghettos zur Kenntnis nehmen - nicht jedem ist bewusst, dass die Geschichte der Ghettos bis ins 16. Jahrhundert zurück reicht. Den Konflikt zwischen Juden und Christen stellt der Autor sehr geschickt dar. Zum einen lässt er den Hassprediger seine Parolen verbreiten und damit die Leute schnell gegen die jüdischen Mitbürger aufhetzen, zum anderen sind da Isacco und auch der auf Rache sinnende Kaufmann Shimon Baruch, die ihre Religion hoch halten und den Christen ihrerseits mit Misstrauen, wenn auch nicht unbedingt Abneigung, begegnen. Auf diese Weise spiegelt Luca Di Fulvio den ganzen Konflikt, der die Gesellschaft bewegt.
Viele Protagonisten
Ganz so einfach macht es der italienische Autor seinem Publikum nicht. Es sind nicht nur die Hauptfiguren, die dem Roman Tiefe verleihen, sondern eine ganze Reihe von Nebenfiguren, die eine prägende Rolle spielen. So muss sich der Leser mit einer Vielzahl von Charakteren auseinander setzen und dürfte das eine oder andere Mal ein wenig gefordert sein, die Figuren richtig zuzuordnen. Doch diese Schwierigkeit vermag die Aussagekraft des Romans nur unwesentlich zu schmälern. Luca Di Fulvio hat die Charaktere so schön und mit so viel Tiefgang gezeichnet, dass es eine Freude ist, sich mit den einzelnen Protagonisten auseinander zu setzen, selbst wenn sie nur eine nebensächliche Rolle besetzen. Immer wieder sind die Protagonisten für Überraschungen gut, wirken niemals aufgesetzt oder überzeichnet und ergeben ein starkes Gesamtbild.
Mitreissende Geschichte
Es sind aber nicht nur die gut gezeichneten Protagonisten in einem stimmigen Umfeld, die den Roman zu etwas Besonderem machen: Die ganze Geschichte ist spannend, temporeich und mitreißend geschrieben. Es gelingt Luca Di Fulvio, sich ganz vom Vorgänger Der Junge, der Träume schenkte zu lösen und eine völlig andere Geschichte zu erzählen. Dies dürfte einigen Di Fulvio-Lesern etwas Mühe bereiten, zumal der Titel zunächst einen ähnlich strukturierten Roman erwarten lässt. Doch schon nach wenigen Seiten ist der Leser im 16. Jahrhundert angekommen und kann sich ganz auf die Bilder in seinem Kopfkino einlassen.
Luca Di Fulvio ist ein hervorragender Erzähler, der nie den roten Faden verliert und sich nicht mit Halbherzigkeiten zufrieden gibt. Er legt einen gut recherchierten, liebevoll skizzierten und wunderbar geschriebenen Roman vor, der alle Wünsche der Leser von historischen Romanen zu erfüllen vermag. Selbst Leser, die sich kaum an fast tausend Seiten umfassende Romane heran trauen, können hier ohne Bedenken zugreifen: Sie werden eine kurzweilige, überraschende und überzeugende Lektüre vorfinden.
Luca di Fulvio, Lübbe
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