Der kleine Flüchtling
- Emons
- Erschienen: Januar 2013
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- Emons, 2013, Titel: 'Der kleine Flüchtling', Originalausgabe
Heimat ist, wo wer sein Heim hat
Kurzgefasst:
Weihnachten 1944: Aus dem schlesischen Nest Habendorf flüchtet Familie um Familie. Der siebenjährige Ulrich Scheller kann es kaum erwarten, dass sich auch seine Mutter endlich dazu durchringt, Haus und Heim zu verlassen, denn Ulrich fiebert dem "Abenteuer Flucht" entgegen. Dieses Abenteuer verschlägt Familie Scheller nach Niederbayern. Doch Flüchtlinge sind hier nicht willkommen ...
Im September 1944 beginnt die Geschichte des kleinen Flüchtlings Ulrich Scheller, Sohn des Schreiners Scheller aus dem schlesischen Habendorf. Während die Erwachsenen voller Bangen in die Zukunft schauen und von Flucht munkeln, sehen Ulrich und sein Bruder Anton ein großes Abenteuer vor sich. "Heimat" ist für Ulli noch ein Wort ohne tiefere Bedeutung, es ficht ihn nicht an, sein heimatliches Habendorf zu verlassen und in die Welt hinaus zu ziehen. "Heimat ist, wo wer sein Heim hat", hat Ulli entschieden.
Als es dann tatsächlich soweit ist, daß die Habendorfer ihr Zuhause verlassen müssen, da sind es die Erwachsenen, die um Verlorenes jammern und ihre Wurzeln verlieren. Zurück bleiben Großvater Scheller und der alte Weber Wänig mit seiner Tochter und dem Enkel Wolli, genannt das Mausgesicht. Ulli und Anton dagegen stürzen sich auf das Neue, das sie erleben. Reich war die Familie Scheller nie, das Handwerk des Vaters brachte gerade das Nötigste ein. Aber der Schreiner hat seinen Söhnen geschickte Hände und ein Köpfchen für das Technische vererbt - ein großes Glück, wie sich in den nächsten Jahren zeigen wird.
Über das Sudetenland gelangt die Familie nach Bayrisch Eisenstein und später nach Deggendorf, fristet jahrelang in Notunterkünften ihr Leben. Vielleicht werden die Eltern immer fremd bleiben, aber Ulli gelingt das scheinbar Unmögliche: Er findet Anschluß an eine Gruppe gleichaltriger Deggendorfer Jungen, die ihn bald nicht mehr "Böhmack", sondern anerkennend "Gripskopf" nennen und als Freund betrachten. Während Vater Scheller versucht, nicht an seiner Lungenentzündung zu krepieren, verbringen Ulli und Anton ihre Tage damit, Essbares oder sonst wie Verwertbares für die Familie heran zu schaffen.
Verschiedene Wege
Derweil lebt die Familie Langmoser ihr eigenes Leben. Alteingesessen auf einem Hof in Neuhausen, nahe Deggendorf, haben auch hier die Familienmitglieder die unterschiedlichsten Päckchen zu tragen. Trotzdem ist Anna fest entschlossen, ihrer Tochter Gerda den einer Prinzessin zustehenden Platz im Leben zu ertrotzen. Und obwohl oft Neid und Missgunst das Handeln ihrer Mutter bestimmen, wächst Gerda zu einem liebenswerten jungen Mädchen heran.
Auch Wolli Wänig hat es mittlerweile ins Bayrische verschlagen. Und auch er macht sich nützlich, so gut er es vermag - allerdings auf ganz andere Weise als Ulli und Anton. Gelegentlich wird sein Weg von Ferne auch den der beiden Kumpels aus Habendorf kreuzen, ohne daß man sich erkennt und voneinander weiß. Ganz unterschiedlich sind die Ziele der jungen Menschen, ebenso unterschiedlich wie ihre Herkunft und ihre Charaktere. Und nicht jeder von ihnen wird in seinem Leben Glück finden.
Von der Schwierigkeit, anzukommen
Jutta Mehler beschwört in ihrem Roman eine Zeit herauf, an die wohl alle Beteiligten nicht mehr gerne zurück denken. Die einen haben verloren was ihnen wichtig war, mussten um einen neuen Platz für sich und ihre Familien kämpfen. Die anderen hatten mit sich selbst genug zu tun und fühlten sich durch die Neuankömmlinge bedroht. Waren es auch oft nur Besitzstandsdenken und die Überheblichkeit des Eingeborenen gegenüber dem frisch gestrandeten Habenichts, so machte dies doch oft genug den Flüchtlingen das Leben schwer. Die Autorin beschreibt in parallelen Handlungssträngen sowohl das Leben der Flüchtlinge als auch am Beispiel der Familie Langmoser die Sorgen und Probleme der Einheimischen. Und wenn diese möglicherweise im Vergleich zu den existentiellen Nöten der Flüchtlinge harmlos erscheinen, so wirken sie sich doch auf das Zusammenleben und die Haltung zueinander aus. Dazu kommt in diesem Roman, daß die aus Schlesien kommenden Flüchtlinge oft evangelisch waren, die Bayern jedoch bekanntermaßen in der Mehrheit katholisch. Auch hier sorgen Vorurteile und Engstirnigkeit - nicht zuletzt der katholischen Kirche und der Behörden - für erneute Ausgrenzung.
Man hatte ihm den Eintritt in die katholische Knabenschule verweigert. Denn im rechtgläubigen Niederbayern wurde die Spreu vom Weizen akribisch getrennt. Kein lutherisch-ketzerischer Abweichler durfte sich in die fromme Lämmerherde drängen, die sich der Vatikan hielt. Für Ulrich und Anton fand der Unterricht deshalb in der verwaisten Neuhofkaserne statt... Ulrich und Anton und noch ein paar weitere der regulären Schulbank verwiesene Irrgläubige mussten sich morgens vor dem mittleren Kasernenblock aufstellen und der Ankunft von Lehrer Kuchler entgegensehen...
Die Autorin begleitet den Weg ihrer Protagonisten bis weit in die fünfziger Jahre hinein, so daß die Leser noch miterleben dürfen, wie vor allem Ulrich und Anton Fuß fassen, Freunde finden und sich eine Zukunft aufbauen. Dabei werfen auch die erwachsenen Protagonisten selbst in den ersten Jahren nach dem Krieg erstaunlicherweise nie die Frage nach einer Rückkehr nach Schlesien auf. Habendorf ist Vergangenheit und selbst die Eltern Scheller akzeptieren dies erstaunlich schnell. Große Trauer über den Verlust wird bei ihnen nicht sichtbar. Auch im weiteren Verlauf spielen Landsmannschaften, Heimattreue oder Sehnsucht nach dem Verlorenen in diesem Roman keine Rolle. Jutta Mehler konzentriert sich voll und ganz auf das Leben der Kinder und ihre Sicht der Dinge, auf ihr Bemühen, anzukommen.
Flott erzählt
Der kleine Flüchtling wird mit viel Verve und ganz offensichtlich auch Spaß an der Sache erzählt. Das tut dem ernsten Anliegen des Buches keinen Abbruch. Die Autorin wählt dabei eine leicht distanzierte Perspektive, vertieft sich auch gar allzu intensiv in Gefühlswelten, trifft aber trotzdem genau den richtigen Ton um ihren Protagonisten Charakter zu verleihen. Nicht jeder von ihnen bekommt wirklich Tiefe, nicht jeder bekommt von der Autorin die Chance zur Veränderung. Doch viel Wortwitz und Ironie fließen in den Text mit ein und machen daraus ein Lesevergnügen der besonderen Art. Ein besonderes "Schmankerl" sind dabei wohl der in der wörtlichen Rede immer wieder auftauchende niederschlesische Dialekt Ullis Bemühen, endlich richtig bayrisch zu lernen.
Es war Samstag, und wie an jedem Samstag hatte der Pedell den Badeofen im Keller der Schule für die Flüchtlingsfamilien aus dem Kolpinghaus beheizt.
,Böhmacker-Hosenkacker, heut is dein Tag, musst schubben und rubbeln, dann geht der Grind ab.'
,Ich mecht se priegeln, windelweich, daß die das meschante Maulwerk keen eenmal nich mehr uffkriechen', schimpfte Anton aus dem Holzzuber heraus.
,Priegeln - verdreschen, ufkriechen - aufbringa, keen eenmal - nimmer', murmelte Ulrich versonnen.
Schon vor Wochen war es ihm klar geworden: Wer den richtigen Dialekt drauf hat, der gehört dazu, egal wie er heißt und wo er wohnt - selbst wenn er Spulwurm heißen und in einem Scheißhaus wohnen würde."
Jutta Mehler gelingt es, ihre Leser einzufangen und sie an das Buch zu bannen. Sie hat offenbar umfangreich recherchiert und teilt ihr Wissen gerne und ausgiebig mit ihren Lesern. Die Geschichte des kleinen Flüchtlings Ulli Scheller ist dramatisch und spannend, obwohl sie eher mit leichtem Ton erzählt wird. Und Ulli ist ein so energiegeladenes, sympathisches Kerlchen, daß man nur mit ihm hoffen kann, wenn er von seinen Zukunftsplänen träumt. Kein Wunder, daß man das Buch nicht aus der Hand legen mag bis man weiß, wie die Geschichte denn nun endet. Und endet sie überhaupt?
Ein wichtiges Buch
Mit Der kleine Flüchtling hat der Emons-Verlag einen Griff in die Schatzkiste getätigt und einen Volltreffer gelandet. Der Schutzumschlag des Hardcover-Bandes zeigt ein wirklich herzanrührendes Foto und passt genau zum Inhalt des Romans: ebenfalls ein Volltreffer. Schade allerdings, daß das Buch keine Karte bietet, die es den Lesern erleichtern würde, Habendorf zu lokalisieren und den Weg der Flüchtlingsfamilie Scheller zu verfolgen.
Dieser Roman thematisiert Schicksale, die in beiden Deutschlands der Nachkriegszeit gern übersehen wurden. Und wenn auch Marion Gräfin Dönhoff immer wieder ihren Finger in die Wunde legte, so gab es außer ihr nicht viele, die sich zu Wort meldeten. Zum Glück hat sich die vornehme Zurückhaltung in den letzten Jahren etwas gelegt. Und so ist dies ein Buch zur rechten Zeit, dem viele Leser zu wünschen sind.
Jutta Mehler, Emons
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