Hundsgeschrei
- Silberburg
- Erschienen: Januar 2013
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- Silberburg, 2013, Titel: 'Hundsgeschrei', Originalausgabe
Eine bittere Essenz
Kurzgefasst:
Wie die jüdische Bevölkerung von den Nazis gedemütigt und drangsaliert wird, erfährt Jakob Winter schon früh am eigenen Leib. Geboren ausgerechnet an Hitlers Geburtstag, blickt der Spross einer jüdischen Fabrikantenfamilie in die Abgründe seiner Zeit - zunächst in seiner Heimatstadt im schwäbisch-fränkischen Grenzland und später im Ghetto von Riga. Doch ihm gelingt die Flucht und er entrinnt dem sicheren Tod in den Vernichtungslagern der Nazis. Nach einer abenteuerlichen Odyssee durch Europa kehrt er schließlich mit den amerikanischen Truppen nach Hohenlohe zurück. Wo er feststellen muss, dass hier keine Heimat mehr auf ihn wartet.
1952 kehrt Jakob Winter in seine Heimatstadt zurück. Er kommt nach Jahren der Vertreibung und Diffamierung, Jahren der Flucht und der Suche nach einer Heimat, in die Stadt zurück, in der er geboren wurde. Nun will er Ansprüche auf sein Erbe geltend machen. Er will das Haus zurück, in dem seine Familie lebte, und er will die Fabrik zurück, die sein Großvater Salomon gegründet hat. Seine Rückkehr in das kleine hohenlohische Städtchen wird zur Konfrontation mit der deutschen Bürokratie und zum Spießrutenlauf der Erinnerungen:
Jakob Winter wächst mitten in Deutschland auf, in dem Städtchen Seelbach, gelegen im schwäbisch- fränkischen Grenzland. Seine Familie gehört zu den wichtigen Leuten in dieser Stadt, denn die Glasfabrik Winter ist der größte Arbeitgeber hier. Salomon Winter, deutsch-national, voller Lebensfreude und cleverer Geschäftsmann, hat die Fabrik gegründet und herrscht als wohlwollender, aber strenger Patriarch sowohl über die Belegschaft der Fabrik als auch über die Familie. Ganz selbstverständlich war es für ihn, seine beiden Söhne für Kaiser und Vaterland in den Krieg zu schicken - auch wenn er denn Heldentod des Ältesten nie wirklich verwunden hat. Vater Joseph Winter hat als Spezialist für Sprengstoffe den Krieg überlebt, wurde mit Orden geehrt und ist voller Stolz im Vorstand des Frontsoldatenvereins. Er möchte gerne ein Kriegerdenkmal für Seelbach stiften, auf dem die Namen aller Gefallenen zu lesen sind, der Christen und auch der Juden.
Aber fast wichtiger als die Großeltern, Eltern und Geschwister sind für Jakob seine Freunde Alfi und Gustav, mit denen ihn weit mehr als nur eine gemeinsame Schulzeit verbindet. Allerdings macht die Rassenpolitik der Nazis auch nicht vor unbedeutenden kleinen Städten halt und das Leben der drei Jungen verändert sich. Immer schwerer wird es für Jakob und seine Familie, das Leben in Deutschland wird zur Tortur. Im Jahr 1941 schließlich kommt die Aufforderung zur Umsiedlung in den Osten. Riga wird zur Endstation der Familie Winter. Jakob jedoch gelingt die Flucht.
Eine besondere Geschichte
Hundsgeschrei stellt sich in eine Reihe von Romanen wie Bohemia - mein Schicksal (Jan Koplowitz) oder auch Die Bilder des Zeugen Schattmann (Peter Edel), die den Untergang gutbürgerlicher jüdischer Familien in Deutschland schildern. Oft tragen diese Romane autobiographische Züge. Simon erzählt jedoch eine fiktive Geschichte aus einem fiktiven Städtchen. Dies allerdings so intensiv, daß jenes nicht real existierende Seelbach vor den Augen des Lesers ersteht und dieser mit Jakob Winter durch die Gassen laufen und dessen Erinnerungen mit erleben kann.
Simon geht schonungslos mit dieser Stadt und ihren Bewohnern um, nimmt sie beispielhaft für das Verhalten der meisten Deutschen während der Nazizeit und vor allem für das schier unglaubliche Verhalten der Behörden in den frühen Jahren der Bundesrepublik. Als Aufhänger dient hier ein Gesetz der Nationalsozialisten, welches jüdischen Menschen die Staatsbürgerschaft bei Überschreiten der Reichsgrenze aberkannte. Jakob Winter, der ja mit seiner Familie über die Reichsgrenze nach Riga deportiert wurde und somit die deutsche Staatsbürgerschaft verlor, steht 1952 vor der hoffnungslosen Aufgabe, sich diese Staatsbürgerschaft zurück zu erkämpfen. Dies ist ein peinlicher und sehr besonderer Teil bundesdeutscher Geschichte, den wohl viele Menschen ebenso gern vergessen würden wie die Shoah. Titus Simon gebührt Dank dafür, daß er seinen Finger in diese Wunde legt. Er stellt die Politik der frühen Bundesrepublik an den Pranger und auch das Verhalten jener braven Deutschen, die alle eine Vergangenheit haben welche sie nicht verleugnen können, die aber auch keinen Grund sehen, sich dafür zu schämen.
Bis heute gehen viele Menschen davon aus, daß die meisten deutschen Juden in Auschwitz ermordet wurden. Die ersten Transporte aus ganz Deutschland gingen fast alle nach Riga, tausende deutsche Juden wurden dort erschossen, verhungerten, erfroren. Aber das wissen nur wenige. Titus Simon ruft es ins Gedächtnis.
Hundsgeschrei ist nicht chronologisch erzählt. Der Roman ist um die Bemühungen Jakob Winters herum gewebt, seine deutsche Staatsbürgerschaft wieder zu erlangen. Es gibt Rückblicke, die Familiengeschichte erzählen, es gibt Sentenzen in der Gegenwart der fünfziger Jahre und es gibt Vorausschauen bis in die heutige Zeit. Viele Details tragen dazu bei, daß der Unterschied von Fiktion und Realität verschwimmt. Hier wurde enorme Recherchearbeit geleistet.
Unter die Haut
Der Autor erliegt nicht der Versuchung, seine Protagonisten in "Gute Juden" und "Böse Arier" einzuteilen. Sein Personal hat vielschichtige Charaktere. Selbst die judenfeindliche Bauernfamilie Lang bietet ein reiches Repertoire an Widersprüchen. So ist Franz Lang wohl ein Oberekel, ist brutal und ein Judenhasser, und doch ist selbst er ein Mann, der angenehme und positive Charakterzüge aufzuweisen hat. Es scheint, daß Titus Simon auch den Menschenschlag auf der Grenze zwischen Franken und Schwaben intensiv studiert hat. Hier sind ihm wahrhaftige Szenen gelungen, die zum Teil tief berühren. Auch der schwer traumatisierte Jakob Winter wird nicht einfach einem rosaroten Happy end zugeführt. Der Autor zeigt ihn als Menschen, der unfähig ist, dauerhafte Beziehungen einzugehen, tiefe Gefühle zu entwickeln, gestört in seinen sozialen Bindungen, unfähig, einen Platz für sich zu finden. Weder Israel noch Deutschland können ihm noch Heimat sein. Auch dies beispielhaft für einen großen Teil der Überlebenden, die nach der Befreiung in den DP-Lagern saßen und nicht wussten, wohin sie gehen sollten. Simon stellt neben die jüdische Familie Winter die Bauernfamilie Lang, die im Nationalsozialismus ihr Heil zu finden glaubt. Und doch gibt es Verknüpfungen zu den verhaßten Juden, geht Sohn Gustav sogar eine Freundschaft mit Jakob ein. Die Ja-Sager und die Widerständler finden ebenso ihren Platz in diesem Buch wie die stillen Aufrechten oder jene, die die eigene Familie auf dem Gewissen haben.
Im letzten Drittel zerfasert die Geschichte etwas. Zu viele politische Fakten und historische Entwicklungen müssen mit eingebunden und an den Leser gebracht werden. Dies tut letztendlich der Qualität keinen Abbruch. Gelegentlich ist mancher Leser wohl froh, eine emotionale Verschnaufpause zu bekommen.
Hundsgeschrei geht über weite Strecken gerade durch einen eher lakonischen Sprachduktus unter die Haut. Es gibt keinen Aufschrei, keine tränenreichen Anklagen. Und doch ist dieses Buch gallebitter, traurig, ergreifend. Es lässt nachdenkliche Leser zurück.
Nicht nur regional
Titus Simon hat mit Hundsgeschrei einen Roman vorgelegt, der weit mehr als nur regionale Bedeutung hat. Das fiktive Seelbach auf der Grenze zwischen Schwaben und Franken ist überall in Deutschland zu finden - auch dann, wenn die jüdische Gemeinde nicht so groß und der Hauptarbeitgeber am Ort kein Jude war. Simon übersetzt deutsche Geschichte in eine greifbare, begreifbare Dimension. Er verringert die Distanz, die zwischen dem heutigen Leser und dem damaligen Geschehen liegt, auf ein Minimum. Insofern ist der Silberburg-Verlag zu diesem Buch zu beglückwünschen und es ist zu hoffen, daß die Lesungen für dieses Buch nicht nur rund um Schwäbisch-Hall stattfinden.
Dies ist kein Buch, welches beim Lesen ungetrübtes Glück und Spaß beschert. Es tut weh. Aber das muß so sein.
Hundsgeschrei wurde vor kurzem für den Deutschen Buchpreis 2013 vorgeschlagen.
Titus Simon, Silberburg
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