Torstraße 1

  • dtv
  • Erschienen: Januar 2012
  • 6
  • dtv, 2012, Titel: 'Torstraße 1', Originalausgabe
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Annette Gloser
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Histo-Couch Rezension vonMär 2013

Von Menschen und Zeiten

Kurzgefasst:

Für die letzte Party ihres Lebens steht Elsa vor dem Soho House in der Torstraße 1, das voller Erinnerungen für sie ist. Hier kam sie vor achtzig Jahren zur Welt, als das Kaufhaus Jonass 1929 glanzvoll eröffnete. Zur selben Stunde wurde Bernhard geboren, dessen Vater das Haus mit gebaut hat. Zwischen den beiden Kindern und ihren Familien knüpft sich ein enges Band. Sie alle müssen erleben, wie die Zentrale der Hitlerjugend in das Kaufhaus einzieht und die jüdischen Besitzer aus Deutschland vertrieben werden. Nach dem Krieg wird das Gebäude zum Institut für Marxismus-Leninismus der SED, wo Bernhard zu arbeiten beginnt. Krieg und Mauer trennen die Familien - doch Elsa und Bernhard bleiben einander nahe.

 

Als in Berlin, Torstraße 1, der neue Privatclub Soho-Haus eröffnet, versucht auch Elsa, Einlaß in das Gebäude zu bekommen. Für sie ist dies ein besonderer Tag denn der Club befindet sich in "ihrem" Haus, dem Haus, in dem sie 1929 geboren wurde und mit dem sie ihr ganzes Leben lang verbunden war. Sie wird mitgenommen in das neue Nobeletablissement und streift durch die Räume, von Etage zu Etage, auf der Suche nach Bernhard, dem Jugendfreund. Hier wollen sie sich treffen und gemeinsam ihren Geburtstag feiern. Elsa und Bernhard werden heute achtzig

Elsas Mutter Vicky hat als Verkäuferin in diesem Haus gearbeitet, als es noch das Kreditkaufhaus Jonass war, das Kaufhaus des Ostens, in dem auch die kleinen Proletarier aus dem benachbarten Friedrichshain oder dem Prenzlauer Berg schöne Dinge kaufen konnten. Auf Pump, monatlich abzustottern in kleinen Raten. Für viele die einzige Möglichkeit überhaupt, sich ein neues Sofa, Küchengerät oder einfach nur schicke Kleidung anzuschaffen.

Bernhards Vater Wilhelm hat an dem Haus mit gebaut, wäre hier bei einem Unfall auf der Baustelle fast gestorben. Sein Leben lang zieht es ihn immer wieder zu diesem Haus, selbst dann noch, als aus dem Kaufhaus der Sitz der Reichsjugendführung geworden ist, die jüdischen Besitzer im Exil. Und auch später dann, als Wilhelm Pieck hier arbeitete, als danach ein Institut für die Erforschung des Marxismus- Leninismus in das Haus einzog und Wilhelm das Haus ebenfalls nicht betreten durfte, obwohl sein Sohn Bernhard hier oft genug arbeitete. Immerhin konnte er immer wieder das Haus besuchen, es von außen betrachten. Vicky und Elsa hingegen, die auf der anderen Seite jener Mauer leben, die dann doch nicht tausend Jahre hielt, haben für viele Jahre keine Möglichkeit dazu. Und doch führen ihre Wege immer wieder zusammen, führen zu Wilhelm und Bernhard, führen in die Torstraße zum Haus Nummer 1.

Die kleinen Leute von Berlin

Sybil Volks fand die Anregung zu diesem Roman in einem Zeitungsartikel über die Eröffnung des Soho-Hauses. Dieses Haus böte Stoff für einen ganzen Roman, war dort zu lesen. Und Sybil Volks hat tatsächlich einen Roman dazu geschrieben. Sie eröffnet mit "Torstraße1" dem Leser die Sicht auf das Leben der kleinen Leute Berlins. Die Protagonisten Vicky, Elsa, Wilhelm, Bernhard und viele andere, die mit ihnen gemeinsam die Seiten dieses Romans bevölkern, sind diese einfachen Menschen, die sich hart durch's Leben kämpfen. Jeder von ihnen mit seinen Sehnsüchten und Enttäuschungen, mit den großen Fehlern, die man eben so macht im Leben. Aber auch mit den glücklichen Momenten, die uns weiter tragen und uns Kraft geben.

Die Autorin erzählt episodenhaft, fast in Momentaufnahmen. Dies korrespondiert mit dem Beruf der Hauptfigur Elsa, die nach der Scheidung von ihrem Mann als Fotografin ihr Geld verdient. Und aus der Geschichte des Hauses wird die Geschichte der Menschen, wird die Geschichte der Stadt.

 

Das Kreditkaufhaus ist gekommen und gegangen, die Zentrale der Hitlerjugend ist gekommen und gegangen, das Zentralkomitee der SED ist gekommen und wird ebenfalls wieder gehen. Lange kann auch dieser Spuk nicht dauern. Für mich, denkt Elsa und schließt die Augen, wird es immer das Jonass bleiben, das Haus von Mama und Elsie, Bernhard und mir.

Dabei kann die Autorin so wundervoll lakonisch und amüsant sein, wenn es um die Schilderung all der Probleme geht, mit denen sich die Einwohner Berlins in den letzten achtzig Jahren so herum schlagen mussten. Es ist egal, auf welcher Seite der Mauer ein Leser gelebt hat: Wenn er Berliner ist wird er sich wiedererkennen. Denn die Protagonisten des Romans dürfen alle Konflikte ihrer Zeit, je nach Wohnort rechts oder links der Mauer, miterleben, durchleben:

 

Er hebt das Glas, klopft auf seinen nagelneuen Pullover und sagt, den würden ihm die Genossen in der Redaktion nie verzeihen. Der rieche ja schon von Weitem nach Westen, und dafür müsse er sich bestimmt in der Parteiversammlung verantworten.

´Red keinen Quatsch', sagt Wilhelm und ist sich doch nicht sicher. Blödsinn kennt ja bekanntlich keine Grenzen..."

Und gelegentlich weiß man als Leser nicht, ob man da nun schallend lachen oder vielleicht doch lieber weinen soll.

Detailfreudig und realistisch

Immer wieder finden sich kleine literarische Köstlichkeiten in den Zeilen, welche die Situation Berlins und seiner Bewohner in kurzen, treffenden Sätzen zusammen fassen.

 

´You are leaving the American Sector', kann sie inzwischen mühelos lesen, doch der Weg von Amerika nach Rußland ist an dieser Stelle unpassierbar. Die Brücke ragt von beiden Seiten wenige Meter über den Kanal, in der Mitte klafft eine Lücke.

Sybil Volks ist detailfreudig, wenn es um die Schilderung des Alltags geht. Sie hat die kleinen Wichtigkeiten nicht vergessen, mit denen die Menschen in ihrem Buch erst wirklich lebendig werden. Wer weiß heute eigentlich noch, wer "der Elektrische" war? Und was, bitte, war ein Shmoo? Die Protagonisten haben keine bravourösen Abenteuer zu bestehen. Da wurden Menschen in ihr Leben gestellt und müssen es durchstehen, Schicksalsschläge erleiden, Freuden und Ängste erfahren. Was so ein Menschenleben eben zu bieten hat. Dabei bleiben die Protagonisten ganz und gar in ihren Rollen, sie brechen nicht aus, wachsen nicht über sich und den Rest der Welt hinaus. Sie sind realistisch.

Hier wurde umfangreich recherchiert und ein einfühlsamer Roman geschrieben, der seinen Spannungsbogen vom Anfang bis zum Ende hält. Eingerahmt von der Wiedereröffnung des Hauses Torstraße 1, zieht sich die Handlung von 1929 bis zum Jahr 2009. Ein wenig hat die Autorin hier die Eröffnungsfeier vorverlegt, aber was macht das schon? Schließlich ist dies ein Roman und keine akribische Chronik.

Unbedingt lesen!

Die Ausstattung des Buches durch den Deutschen Taschenbuch Verlag kann eigentlich nur Freude auslösen. Die Covergestaltung passt wunderbar zum Inhalt des Buches, ein kurzes Nachwort der Autorin ergänzt den Roman. Mehr als dieses Nachwort ist auch nicht nötig. Hier kann man eine uneingeschränkte Leseempfehlung geben. Dies gilt sowohl für jene, die einen Teil der Romanhandlung selbst miterlebt haben, als auch für die Anderen, Jüngeren, denen diese Ereignisse weit entfernt zu sein scheinen.

Dies ist ein Buch, an dem es nichts zu Mäkeln gibt. Sybil Volks ist mit Torstraße 1 ein grandioser Roman gelungen, der die Leser in seinen Bann zu ziehen vermag, spannend, berührend, lebendig. Ein Buch, durch das der lange Atem der Geschichte weht.

Torstraße 1

Sybil Volks, dtv

Torstraße 1

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