Weisse Nächte, weites Land
- Weltbild
- Erschienen: Januar 2012
- 4
- Weltbild, 2012, Titel: 'Weisse Nächte, weites Land', Originalausgabe
Fesselnde Einwandererschicksale im Russland des 18. Jahrhunderts
Kurzgefasst:
Deutschland im 18. Jahrhundert. Die beiden Schwestern Christina und Eleonora könnten unterschiedlicher nicht sein. Christina ist temperamentvoll und stets auf ihren Vorteil bedacht - ganz anders als die zurückhaltende junge Witwe Eleonora. Beide folgen dem Ruf der Zarin Katharina, in Russland ein neues Leben zu beginnen. Doch die Wirklichkeit erweist sich als sehr viel rauher und grausamer, als es sich beide in ihren Träumen ausgemalt haben.
Das hessische Waidbach, 1765: Zarin Katharina schickt ihre Werber nach Deutschland, die die Bevölkerung dazu aufrufen, ihr Glück in Russland zu machen. Auch die Schwestern Christina, Eleonora und Nesthäkchen Klara Weber führen ein hartes Leben und sehen eine Chance, in Russland ein neues Leben zu beginnen. Während Christina kühl berechnend handelt und vor allem ihre Männerbekanntschaften nach Zweckmäßigkeit aussucht, ist ihre jung verwitwete Schwester Eleonora ein gefühlvoller, sanfter Mensch.
Auch andere Waidbacher ziehen nach Russland wie die entstellte heilkundige Anja, der vernünftige Matthias und sein leichtlebiger Bruder Franz. Besonders beschwerlich wird die Reise für die Familie Röhrich mit der alkoholkranken Mutter Marliese und ihren drei Kindern, darunter der geistig zurückgebliebene Alfons.
Doch nicht nur der Weg nach Russland ist länger und strapaziöser als gedacht - die Waidbacher müssen vor Ort erkennen, dass ihre neue Heimat nicht ihren Träumen entspricht. Statt von behaglichen Häusern empfangen zu werden, müssen sie sich erst mühevoll das Notwendigste beschaffen. Hunger, Kälte, Krankheit und Tod sind die Gefahren, die auf die Einwanderer lauern - und doch versuchen sie alle, ihr Glück in der neuen Kolonie zu finden ...
Von zerplatzten Träumen und zaghaften Hoffnungen
Auch wenn die Örtlichkeiten und Charaktere fiktiv sind, hat sich die Autorin doch an wahren Begebenheiten orientiert. Zwischen den Jahren 1763 und 1772 folgten mehr als 30.000 Deutsche der Einladung der Zarin und hofften auf ein besseres Leben in den Kolonien mit Unabhängigkeit, Landbesitz und Religionsfreiheit. Nach einer beschwerlichen Reise, auf der nicht wenige ihr Leben lassen mussten, erwartete die Deutschen eine große Enttäuschung dank weitaus schlechterer Bedingungen als gedacht. Diese historische Grundlage füllt Martina Sahler mit fiktiven Schicksalen, die Elend, Not und Hoffnungen der Menschen jener Zeit lebendig machen.
Sie malten sich ihr neues Leben in schillernden Farben aus und überboten sich gegenseitig in blumigen Ausschmückungen ihrer Träume und Visionen.
Es gelingt Martina Sahler ausgesprochen gut, den einzelnen Figuren und Handlungssträngen den jeweils angemessenen Raum zuzugestehen. Im Mittelpunkt stehen die Schwestern Christina und Eleonora, die einander lieben und doch unterschiedlicher kaum sein könnten. Eleonora hat ihre große Liebe Andreas im Siebenjährigen Krieg verloren, nur ihre kleine Tochter Sophia ist ihr geblieben. Die junge Witwe ist ein liebenswerter, mitfühlender Mensch, auf Gerechtigkeit bedacht und viel stärker, als es ihre unscheinbare Art erahnen lässt. Christina dagegen ist kess und temperamentvoll. Sie versteht es, ihre äußeren Reize einzusetzen und scheut dabei selbst nicht vor einer Affäre mit ihrem Onkel zurück, der sie für ihre Dienste entlohnt. Eine Zweckehe ermöglicht Christina die Reise nach Russland, wo sie hofft, einen attraktiven und vor allem wohlhabenden Landesmann zu finden, der ihr den Aufstieg in die Gesellschaft ermöglicht.
Ein weiterer Strang dreht sich um Familie Röhrich. Die alkoholkranke Marliese ist Eleonoras, Christinas und Klaras Tante, in den letzten Jahren das Gespött des Dorfes, doch entschlossen, dem Alkohol abzuschwören, um sich und ihren Kindern ein neues Leben in Russland aufzubauen. Ihr erwachsener Sohn Bernhard ist verantwortungsbewusst und tatkräftig, Alfons dagegen geistig behindert und oft schwierig zu händeln. Noch schwieriger ist der Umgang mit der dreizehnjährigen Helmine. Obgleich noch ein Kind, erkennt Helmine die Sucht der Mutter gut und verachtet sie dafür, ebenso wie den zurückgebliebenen Bruder. Schon früh wird dem Leser deutlich, dass Helmine mit zunehmendem Alter noch für einige Intrigen und Probleme sorgen wird. Ergänzt wird das Hauptpersonal von den Brüdern Franz und Matthias Lorenz sowie Anja Eyring - Franz der großmäulige Knecht, sein Bruder Matthias wortkarg und vernünftig und Anja die durch ein Feuermal entstellte Apothekertochter, die die Hoffnung aufgegeben hat, einen liebenden Ehemann zu finden.
Spannende und bewegende Handlung
Das teils deutlich gespannte Verhältnis der Figuren untereinander macht die Handlung besonders reizvoll. Auf der einen Seite bedeutet die gemeinsame Reise vertraute Gesichter um sich herum, auf der anderen Seite stehen immer wieder Konflikte im Raum. Christina gelingt es, Matthias Lorenz für eine Heirat zu gewinnen, die ihnen die Ausreise ermöglicht, da Familien bevorzugt werden - zu diesem Zeitpunkt ahnt sie noch nicht, dass sie von ihrem Onkel ein Kind erwartet. Anja hofft wiederum auf eine Zweckehe, während Eleonora gegen ihren Willen Gefühle für eine Person entwickelt und sich bemühen muss, diese geheimzuhalten. Das Schicksal der Figuren geht dem Leser nah, interessanterweise sogar das von Charakteren wie Christina und Franz, die beileibe keine großen Sympathieträger sind. Schwarz-Weiß-Malerei wird weitgehend vermieden, stattdessen erfahren einige der Charaktere eine gewisse Entwicklung.
Nöte, Sorgen und Wünsche der Charaktere werden anschaulich und realistisch geschildert. Der Leser bangt mit den Figuren und erhält ein detailliertes Bild von den harten Bedingungen jener Zeit. Bei allem Elend ist stets auch ein wenig Raum für romantische und optimistische Szenen. Das Leben der Kolonisten wird nicht beschönigt, doch zugleich ist die Handlung nicht ausschließlich deprimierend, sondern setzt wohltuende Akzente mit glücklichen Momenten. Eine Karte, eine Auflistung der wichtigsten Figuren sowie ein knappes, aber informatives Nachwort helfen zudem, immer einen souveränen Überblick zu behalten.
Zu den geringen Schwächen des Romans zählt das sehr kurz geratene Ende. Auch wenn noch eine Fortsetzung folgen wird, kommen einige Entwicklungen für den Leser im Epilog zu plötzlich und zu überraschend. Des Weiteren könnte der Prolog suggerieren, dass Zarin Katharina eine größere Rolle im Werk einnimmt - tatsächlich erscheint sie von da an nicht als handelnde Person, sondern lediglich in Erwähnungen anderer. Zudem erscheint eine charakterliche Wendung einer Figur ein bisschen überzogen und plötzlich herbeigeführt.
Fazit: Ein ausgesprochen unterhaltsamer und bewegender Roman, der den Leser mit auf eine spannende Reise nimmt und Lust auf die Fortsetzung macht.
Martina Sahler, Weltbild
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