Der Zeitreisende. Die Visionen des Henry Dunant
- dtv
- Erschienen: Januar 1994
- 0
- Nagel & Kimche, 1994, Titel: 'Der Zeitreisende: Die Visionen des Henry Dunant', Originalausgabe
Anspruchsvolles literarisches Denkmal
In ihrem Roman Der Zeitreisende - Die Visionen des Henry Dunant erzählt die auf Lebensläufe besonderer, teils in Vergessenheit geratener Persönlichkeiten fixierte Autorin Eveline Hasler das Leben eines Mannes, dessen Werk heute jeder Mensch weltweit kennt: Das Internationale Rote Kreuz. Als Schüler wollte der am 8. Mai 1828 in Genf geborene Henry Dunant eigentlich Schriftsteller werden, doch wegen zu schlechter Noten musste er das Gymnasium verlassen. Er beginnt eine Banklehre und hilft sonntagabends seiner Mutter bei der Pflege von kranken und sterbenden Menschen. Schnell kann er Freunde für diese Tätigkeit begeistern und so gründet er im November 1852 eine Gruppe des Christlichen Vereins junger Männer (CVJM) in seiner Heimatstadt. Später zieht es ihn als Kaufmann nach Algerien, wo ihm zugesagte Konzessionen für Grundstücke und anderes nicht erteilt werden. Sein Geschäft gerät in erhebliche Schieflage und so macht er sich auf den Weg, um Napoleon III., Präsident der Zweiten Französischen Republik, persönlich um Hilfe zu bitten.
Die Schlacht von Solferino wird zum Auslöser
Napoleon III. befindet sich jedoch im Krieg. Französische Truppen stehen italienischen Einheiten gegen die Armee Österreichs bei. Nach Ende der legendären Schlacht bei Solferino findet sich Dunant am 24. Juni 1859 auf dem Schlachtfeld wieder. Rund 38.000 Tote, Sterbende und schwer Verletzte; ohne dass ihnen jemand zur Hilfe eilt. Dunant vergisst Napoleon und seine eigenen Probleme und organisiert eine Hilfsaktion für die Verletzten, wobei er auch feindlichen Soldaten zur Hilfe eilt. Dieses Ereignis verändert sein Leben und wird ihn nie wieder loslassen. 1862 veröffentlicht er sein bekanntes Buch Eine Erinnerung an Solferino, in denen er nicht nur die Schrecken des Krieges darstellt, sondern auch erste Gedanken entwickelt, um künftig das Leid der Soldaten zu verringern. Nur ein Jahr später kommt es im Oktober 1863 zu einer ersten Konferenz in Genf, wo Durants Ideen diskutiert werden. Am 22. August 1864 wird die "Genfer Konvention" von zwölf Staaten unterzeichnet.
"Schmerzensschreie auf den Abhängen der zypressenbestandenen Hügel, junge Männer, tot zwischen den Hecken der Maulbeerpflanzungen. Zwanzigjährige Österreicher. Zwanzigjährige Franzosen. In den gebrochenen Augen spiegelt sich der gleiche Himmel. Sanftes Erstaunen, dass alles, was sein könnte, schon ausgelöscht ist durch diese Schlacht. Vom Sterben hat keiner der Kriegswerber gesprochen, nur vom Abenteuer, vom Ruhm..."
Der Bankrotteur lebt jahrzehntelang in Armut
Die Geschichte des Internationalen Roten Kreuzes kann beginnen, doch ein anderer Mann drängt sich in den Vordergrund: Gustave Moynier. Ein Rechtslizenziat, der zu übertriebener Vorsicht und Argwohn neigt. Als 1867 das Geschäftsmodell Dunants endgültig scheitert und ihn seine Geldgeber verklagen, kommt es zur Katastrophe. Als Bankrotteur gebrandmarkt, stehen plötzlich eine Millionen Franken als Schulden im Raum. Moynier diskreditiert seinen einstigen Partner und sorgt für dessen Rauswurf beim Roten Kreuz. Dunant ergreift die Flucht, lebt später in Heiden am Bodensee unter ärmlichsten Verhältnissen. Seine letzten achtzehn Jahre wohnt er in einem kleinen Zimmer des dortigen Bezirkskrankenhauses, wo er am 30. Oktober 1910 verstirbt.
Späte Genugtuung: Der Friedensnobelpreis für den großen Philanthropen
Zuvor erhält er jedoch noch eine große Auszeichnung. Gemeinsam mit dem Pazifisten Frédéric Passy erhält er 1901 den geteilten Friedensnobelpreis, den ersten Friedensnobelpreis überhaupt. Allein vom Preisgeld sieht er nichts aufgrund seines nach wie vor hohen Schuldenstandes. So lebt er weiter in bitterer Armut. Meist reicht es gerade einmal für eine (warme) Mahlzeit am Tag; in der Regel nur eine einfache Suppe.
"Ich wünsche zu Grabe getragen zu werden wie ein Hund, ohne eine einzige von euren Zeremonien, die ich nicht anerkenne."
Eveline Haslers Roman beginnt in den 1880 Jahren in Heiden, wo der Protagonist sein kümmerliches Exil fristet, in dem er sich vor seinen Verfolgern versteckt. Er erinnert sich an sein Leben, dessen Höhepunkte und versucht noch ein letztes Mal, eine ihm zustehende Anerkennung zu erhalten. Nein, noch ist der Gründer des Roten Kreuzes nicht tot, noch ist sein Name vielen Menschen ein Begriff. Ein letztes Mal gegen die Intrigen Moyniers aufstehen, für seine visionären Ziele kämpfen, so lautet sein Credo der letzten Jahre.
"Utopien von heute sind die Realität von morgen."
Henry Dunant kann auf ein äußerst bewegtes Leben zurückblicken. Viele mächtige und einflussreiche Persönlichkeiten lernte er kennen. Clara Barton, die - unabhängig von der Entwicklung in Europa - das Amerikanische Rote Kreuz gründete, wird eine wichtige Rolle spielen, wenngleich es das Schicksal will, dass sich die beiden nie persönlich begegnen. Der scharfe Kirchenkritiker und Philanthrop entwickelt nicht nur die Grundregeln für internationale Hilfsbereitschaft, sondern zeigt sich zu seinem Lebensende hin auch als Wegbereiter der späteren Frauenbewegung, da er den Hang der Männer zum Militarismus verachtet. Künftige, gewaltige Kriege sieht er voraus. Dass ausgerechnet Alfred Nobel, der Erfinder des Dynamits, zum Namensgeber des Friedensnobelpreises wird, befremdet Dunant.
Der Zeitreisende - Die Visionen des Henry Dunant erschien in Deutschland erstmals 1998 und ist nun - zwanzig Jahre später - bei dtv erneut erschienen. Die zahlreichen Rückblenden und Zeitsprünge machen es dem Leser nicht immer leicht, den Überblick zu behalten, wo die Handlung gerade spielt. Man muss sorgfältig lesen, aufpassen und darf dabei den Sprachstil der Autorin genießen. Wer sich also die Zeit nimmt, diesen außergewöhnlichen Menschen (neu) zu entdecken, wird auf seine Kosten kommen. Ein Roman voller Intrigen und Menschenliebe, Elend und Visionen für ein besseres Leben. Und die Liebe? Diese war Dunant zeitlebens nicht vergönnt.
Eveline Hasler, dtv
Deine Meinung zu »Der Zeitreisende. Die Visionen des Henry Dunant«
Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!