Süß und ehrenvoll

  • Lübbe
  • Erschienen: Januar 2013
  • 1
  • Lübbe, 2013, Titel: 'Süß und ehrenvoll', Originalausgabe
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Annette Gloser
951001

Histo-Couch Rezension vonOkt 2013

Fürs Vaterland zu sterben

Kurzgefasst:

Frankfurt am Main, 1914. Bürgersohn Ludwig kann nach Kriegsausbruch seine Einberufung kaum erwarten, obwohl der Dienst an der Front die Trennung von seiner geliebten Karoline bedeutet. Als deutscher Soldat fühlt er sich endlich voll akzeptiert und will sich für sein Vaterland auszeichnen. Bordeaux, ebenfalls 1914. Der Bäckerssohn Louis wird mit der deutschen Kriegserklärung aus einer unbeschwerten Rekrutenzeit gerissen. Trotz aller Ängste schreibt er stolz seinem Vater, an der Front könne er dem französischen Volk endlich zurückzahlen, was es für ihn getan habe.

 

Beim "Manövertag" spielt die Frankfurter Schuljugend den Sieg von Sedan nach - eine Selbstverständlichkeit für Ludwig Kronheim, eigentlich auch ein glücklicher Tag. Allerdings muß Ludwig immer auf die Seite der Verlierer, der Franzosen, denn er ist ja kein "richtiger" Deutscher. Ludwig kommt aus einer der angesehensten jüdischen Familien Frankfurts, er macht sein Abitur an einem bekannten humanistischen Gymnasium. Sein Vater legt großen Wert darauf, daß der Sohn sich vollständig integriert. Zwar wird auch Ludwig Bar Mizwa, aber ansonsten hat die Familie Kronheim mit der Religion nichts am Hut. Kaum, daß Ludwig ein paar der wichtigsten Gebete eingepaukt bekommt.

Er beginnt ein Jurastudium und lernt Karoline kennen, seine große Liebe. Aber Karoline kommt aus einer christlichen Familie. Als ihre Eltern erkennen, daß zwischen den beiden jungen Leuten mehr als Freundschaft ist, reagieren sie abweisend. Sie wollen keinen jüdischen Schwiegersohn.

Dann aber kommt das Jahr 1914 und der deutsche Kaiser verkündet: "Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche!" Familie Kronheim verfällt in einen wahren vaterländischen Rausch, glauben doch alle Familienmitglieder, nun endlich als vollwertige und gleichberechtigte Deutsche anerkannt zu werden. Jubelnd zieht Ludwig in den Krieg, gerne ist er bereit, seinem Vaterland zu dienen und sogar dafür zu sterben.

Bereits 1913 wird in Frankreich der junge Jude Louis Naquet eingezogen. Gerade hat er sein Abitur mit glänzenden Leistungen bestanden. Alle Zukunftspläne muß er jedoch erst einmal auf Eis legen, denn der Militärdienst ist für ihn eine Ehre, eine Pflicht gegenüber seinem Vaterland. Louis ahnt nicht, daß er gar nicht mehr aus dem Grundwehrdienst entlassen werden kann, denn auch er muß 1914 in den Krieg ziehen.

Zwei junge Männer, die, jeder für sich, durch die Knochenmühle des Krieges getrieben werden, die sich irgendwann auch im Stellungskrieg vor Verdun gegenüber liegen. Jeder mit seinen Träumen und Wünschen, jeder der Hölle des Krieges ausgeliefert.

Der Wahrheit verpflichtet

Süß und ehrenvoll ist ein Roman mit einem bisher einzigartigen Thema: Juden im Ersten Weltkrieg. Fast hundert Jahre nach dem Beginn des ersten großen Mordens in Europa hat es tatsächlich erstmals ein Autor geschafft, sich dieses Themas anzunehmen und es in einem Roman zu verarbeiten. Eine Tatsache, die eher traurig stimmt.

Dafür allerdings ist der nun vorliegende Roman umfassend recherchiert und bis ins letzte Detail der Wahrheit verpflichtet. Es ist kein Vergnügen, das Buch zu lesen. Immer wieder fliegt einen der Tod aus den Seiten an, glaubt man, den Verwesungsgeruch in den Schützengräben vor Verdun zu riechen. Primor ging es auch darum darzustellen, warum so viele Juden begeistert in den Krieg zogen:

 

´Begreift ihr, was das bedeutet?', rief Dr. Kronheim mit erstickter Stimme und gerötetem Gesicht. ´Das heißt, daß die letzten Schranken zwischen Juden und Nichtjuden in Deutschland gefallen sind! Wir sind Deutsche! Deutsche wie alle anderen. Endlich hat die Emanzipation der deutschen Juden ihr höchstes Ziel erreicht! Jetzt werden wir dem Kaiser und unseren Volksgenossen zeigen, daß wir dieser Anerkennung würdig sind.'

Immer wieder gibt es im Buch Passagen, in denen der Anteil jüdischer Wissenschaftler an der Entwicklung deutscher Waffen dargestellt wird. Offen schildert Primor die Begeisterung, die bekannte jüdische Intellektuelle für den Krieg zeigten, nennt Namen, von denen man dies nie vermutet hätte. Aber auch die mahnenden Stimmen gibt es, leise nur, fast verzagt vor dem Hintergrund der heldenmütigen Begeisterung. Wen wundert's, daß diese Stimmen vor allem den Frauen gehören.

Zahlreiche historische Persönlichkeiten kreuzen die Wege von Ludwig und Louis. Auch konnte der Autor nicht der Versuchung widerstehen, einige pikante Details aus dem Soldatenleben eines kleinen Gefreiten namens Adolf Hitler mit einzuweben. Der Leser findet eine Fülle von Informationen, nicht nur im Bezug auf die Teilnahme jüdischer Soldaten am Krieg, sondern auch im Bezug auf die Heeresführung, auf politische Ziele, auf den Verlauf des Krieges und das zivile Leben hinter den Fronten.

Laßt alle Hoffnung fahren

Offenbar ganz bewusst hat Primor bei der Auswahl seiner Protagonisten auf bestimmte Stereotype gesetzt. So ist Dr. Kronheim ein steifer, bis zum Abwinken kaisertreuer Mediziner, sein Sohn Ludwig zwar etwas offener und moderner, aber die gesamte Familie Kronheim repräsentiert das gutsituierte, Deutschland zutiefst verbundene Judentum. Bürgerlich, dabei kaum noch Beziehungen zur Religion sondern nur noch gerade eben die wichtigsten Feiertage absolvierend. Sogenannte "Jom Kippur Juden", die man nur zu den Hohen Feiertagen in der Synagoge zu sehen bekam.

Vater Naquet in Bordeaux dagegen ist ein einfacher Bäcker, lebensfroh, interessiert an Literatur und Philosophie, zutiefst dankbar dafür, daß Juden in Bordeaux schon seit langen Jahren gleichberechtigt mit allen anderen Bürgern der Stadt leben. Aber auch er hängt nur noch mit wenigen, feinen Wurzeln an der Religion. Und so erzieht er seinen Sohn Louis zu einem Patrioten, der von ganzem Herzen für Frankreich einsteht.

 

"Vater, du hast mir einmal gesagt, daß wir Juden mehr für Frankreich tun müssen als alle anderen. Daß wir über unsere staatsbürgerliche Pflicht hinaus dem Vaterland Dank schulden, weil es uns ermöglicht, als gleichberechtigte Bürger ein Leben in Anstand und Würde zu führen. Du hast immer betont, daß nicht alle Juden immer dieselben Rechte genossen wie die Juden von Bordeaux. Damit man uns als echte Franzosen anerkennt, müssen wir beweisen, daß wir diese Anerkennung wert sind. Bin ich dazu ausersehen, diese Pflicht in Deinem Sinne zu erfüllen?"

Ludwig und Louis erleben den Krieg auf verschiedenen Seiten, zweimal kreuzen sich ihre Wege. Beide erleben die Desillusionierung, beide haben ihr privates Leben außerhalb des Gemetzels, beide reflektieren ihre Gedanken und Gefühle in Briefen. Diese Briefe bieten die Chance, innezuhalten. Sie unterbrechen den Erzählfluß, setzen Zäsuren und eröffnen auch dem Leser die Möglichkeit, das Gelesene zu verarbeiten. Denn dort, wo die Handlung fort läuft, wird man immer wieder mit Grausamkeiten und Brutalität konfrontiert. So, wie Ludwig und Louis die Denkpausen für sich brauchen, so braucht sie auch der Leser. Eigentlich wünscht man nur, daß beide Protagonisten heil nach Hause kommen und ihr hoffnungsvoll begonnenes Leben leben dürfen. Aber was Primor über die Schützengräben vor Verdun schreibt erinnert eher an Dantes Inferno: Lasciate ogni speranza voi ch'entrate. Laßt, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren.

So, wie Primor seine gleichnamigen Protagonisten parallel durch den Krieg führt, entsteht eine gewisse Duplizität des Erlebens, die ihren (fast schon satirischen) beklemmenden Höhepunkt in den Dankgottesdiensten der jüdischen Gemeinden Frankreichs und Deutschlands findet. Aber immer wieder zeigt Primor auch die Unterschiede auf, die zwischen Franzosen und Deutschen im Umgang mit ihren jüdischen Soldaten bestehen. Trauriger Höhepunkt der Diskriminierung wird auf deutscher Seite die Zählung der jüdischen Frontsoldaten.

Ein besonderes Buch

Süß und ehrenvoll ist kein entspannender Roman. Das Buch berührt tief und erwartet vom Leser viel Mitdenken. Der Quadriga Verlag hat hier einen Ausnahmeroman veröffentlicht. Die Gestaltung des Schutzumschlags ist sensibel und wird dem Inhalt gerecht. Avi Primor hat einige lesenswerte Bemerkungen zu historischen Persönlichkeiten und Begebenheiten angefügt, die für den Leser hilfreich sein können. Dieser Roman hätte im Regal durchaus einen Platz neben Remarque oder Hofé verdient, nicht nur weil auch hier der Erste Weltkrieg Thema ist. Hier wird den Menschen ein Denkmal gesetzt, die gerade in Deutschland gerne ignoriert wurden, deren Namen während der Nazizeit zum Teil von den Kriegerdenkmälern gelöscht wurden oder die - wenn sie den Krieg überlebt hatten - 23 Jahre später verhöhnt und erniedrigt in Auschwitz, Riga oder Theresienstadt landeten.

Ganz sicher geht es hier nicht um ein populäres Thema, niemand liest gerne über den Krieg. Und welcher Kriegsroman hat schon ein Happy end? Im nächsten Jahr werden es hundert Jahre, seit der Erste Weltkrieg begann. Es wird Zeit, daß wir uns daran wieder erinnern.

Süß und ehrenvoll

Avi Primor, Lübbe

Süß und ehrenvoll

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