Intrige
- Heyne
- Erschienen: Januar 2013
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- Heyne, 2013, Titel: 'An Officer and a Spy', Originalausgabe
Der erste Whistleblower der Geschichte
Frankreich im ausgehenden 19. Jahrhundert. Der Offizier Alfred Dreyfus, damals einziger Jude im Generalstab, soll militärische Geheimnisse an die Deutschen weitergeleitet haben und wird in einem reinen Indizienprozess degradiert und verurteilt. Niemand zweifelt an der Schuldigkeit Dreyfus`, und die Presse tut ein Übriges, die Bevölkerung gegen den Juden aufzuhetzen.
Da wird der junge und strebsame Oberstleutnant Marie-Georges Picquart Chef des Geheimdienstes, dem der Fall Dreyfus natürlich bestens bekannt ist. Eher durch Zufall stößt Picquart auf Ungereimtheiten und geht der Sache auf den Grund. Je mehr er sich mit der "Affäre Dreyfus" befasst, desto mehr ist er auch von der Unschuld des Verurteilten überzeugt. Picquart setzt nun alles daran, dass die Wahrheit ans Licht kommt, nicht wissend, in welche Gefahr er sich dabei selbst begibt.
Wahrer Hintergrund
Was kann einen Roman noch spannend machen, wenn man schon im Vorhinein weiß, wie die Geschichte ausgeht? Heißt der Autor Robert Harris, so darf man jedoch davon ausgehen, dass es dem Buch weder an Spannung noch an Detailgenauigkeit fehlt.
Harris stellt Dreyfus aber nur indirekt ins Zentrum des Geschehens, denn erzählt wird die Geschichte von Georges Picquart, der bei der inszenierten, öffentlichen und demütigenden Degradierung des Verurteilten zugegen war.
Dem Leser kommt in dem ganzen knapp 600 Seiten umfassenden Werkes nicht ein einziges Mal der Gedanke, dass die eine oder andere Begebenheit nicht genauso gewesen ist wie sie beschrieben wird. Detailliert, analytisch und dennoch mit viel Feingefühl lässt Harris seinen Protagonisten agieren und die ganze Wahrheit über den Fall Dreyfus aufdecken.
Distanzierte Sprache
Der Autor lässt Picquart die Geschichte aus seiner Perspektive – noch dazu im Präsens - erzählen, was dem Ganzen noch mehr Glaubwürdigkeit verschafft. Picquart, selbst ein junger, gutaussehender Mann, der durch seinen Aufstieg zum Chef des Geheimdienstes jegliches Recht hat, hinter die Kulissen der Geschehnisse zu blicken, wird schnell klar, dass Dreyfus lediglich ein Sündenbock ist. Picquart selbst sitzt quasi zwischen den Stühlen, denn einerseits sind ihm Wahrheit und Ehre ein wichtiges Anliegen, aber anderseits hat er eine Affäre mit einer verheirateten Frau. Der Zwiespalt in dem sich der junge Offizier befindet, wird ebenso verdeutlicht wie die menschliche Rücksichtslosigkeit und Überheblichkeit, mit der andere ihren Vorteil zu nutzen wissen.
Wie Picquart nun ans Werk geht, um mehr über die geheim und geschickt gezogenen Fäden des Komplotts zu erfahren, wird von Harris penibel, nachvollziehbar und durchaus spannend erzählt. Allerdings muss man auch eingestehen, dass so manchen Lesern gerade die akribische Detailliertheit vielleicht etwas zu viel ist, wird doch der Spannungsbogen dadurch ab und an auch etwas weniger straff.
Dabei ist es gerade die doch etwas distanzierte, beinah fast schon sachliche Sprache, die der Geschichte erst die richtige Authentizität und Glaubwürdigkeit verleiht. Knappe, glatte Sätze ohne "zierendes Beiwerk" verleihen der ganzen Dramatik noch den letzten Schliff.
Kleine Schritte
Immer wieder finden sich durch Spione zerrissene Papierzettel, die auf diffizile Weise wieder zusammengeklebt werden müssen, um den Text entziffern zu können. In kleinen, sukzessiv gesetzten Schritten macht Picquart aber Fortschritte und bringt Licht ins Dunkel der Dreyfus Affäre und setzt nun alles daran, dass der Offizier wieder rehabilitiert wird.
Mit welch unfassbarerer Unverschämtheit hohe Regierungsbeamte agieren, zu welch intriganten Mitteln gegriffen wird und mit welch kaltblütiger Bereitschaft ein Mensch zum Sündenbock gestempelt wird, lässt den Leser oft nur atemlos staunen. Harris beherrscht sein Metier und wird mit seiner Darstellung dem Titel des Buches vollends gerecht.
Ein hervorragendes Buch über Proporz, hinterhältige Machenschaften und menschliche Abgründe, aber auch Wahrheit und Ehre. Ohne moralisch erhobenen Zeigefinger legt Robert Harris mit diesem Buch Zeugnis ab für ein Geschehen, das über 100 Jahre her ist und nichts an Aktualität verloren hat.
Robert Harris, Heyne
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