Das Lied der Hoffnung
- Goldmann
- Erschienen: Januar 2013
- 0
- Goldmann, 2012, Titel: 'The Lost Souls of Angelkov', Originalausgabe
Bewegendes Frauenschicksal im Russland des 19. Jahrhunderts
Russland zur Mitte des 19. Jahrhunderts: Mit siebzehn Jahren wird Antonia, Tochter eines russischen Prinzen, von ihrem Vater mit dem deutlich älteren Graf Mitlowski verheiratet. Aus Prinzessin Antonia wird eine Gräfin, die von nun an auf dem Landgut Angelkow im Nordwesten des Landes lebt.
Der zuvor bereits verwitwete Graf wünscht sich sehnlichst einen männlichen Nachkommen. Nach der Geburt von Sohn Michail ist die Freude zunächst groß. Doch Mischa entwickelt sich anders als von seinem Vater erhofft - der Junge ist zart und sensibel, interessiert sich lieber für Musik als für Jagd und Kampf. Während der Graf immer wieder versucht, Mischa zu einem härteren Jungen zu machen, liebt Antonia ihren Sohn innig.
Als Mischa zehn Jahre alt ist, wird er auf einem Reitausflug vor den Augen seines hilflosen Vaters von Kosaken entführt. Der Graf wird dabei verletzt und ist fortan bettlägerig, sodass die verzweifelte Antonia das Gut zunehmend alleine führen muss. Eine Lösegeldforderung für Mischa geht ein, doch trotz sofortiger Zahlung kehrt der Junge nicht zurück. Während der Graf mehr und mehr in Depressionen versinkt, gibt Antonia die Hoffnung nicht auf, ihren Sohn wiederzusehen. Unterstützung erhält sie dabei von Grischa, dem Gutsverwalter, der ein dunkles Geheimnis mit sich trägt ...
Glanz und Elend im adligen Russland
Das Lied der Hoffnung ist das Ergebnis von Linda Holemans Auseinandersetzung mit ihrem russischen Erbe - ihre Großeltern stammten aus der Nähe von Sankt Petersburg; der Bruder ihrer Großmutter wurde als Fünfjähriger von Kosaken oder Tataren entführt und ward nie mehr gesehen. Dieses Ereignis bildet den wahren Kern der Geschichte, die sich vor allem um den Gegensatz zwischen Arm und Reich, das Goldene Zeitalter von Musik und Literatur sowie ein bewegendes Frauenschicksal dreht.
Die adlige Welt Russlands der 1860er Jahre ist Schauplatz dieses umfangreichen Romans, der vor allem durch eine bewegende Geschichte und gelungene Figuren besticht. Es ist eine Zeit des sozialen Umbruchs, der Folgen für alle Bevölkerungsschichten mit sich bringt. Die Leibeigenschaft wird aufgehoben, die Arbeiter auf dem Landgut verlangen nun neue Rechte und bessere Bedingungen, wenn sie es nicht gleich verlassen. Die Gegenwartshandlung spielt fast ausschließlich auf dem Landgut, sodass eine kammerspielartige Atmosphäre entsteht. Mischas Entführung und die zunehmende Schwäche des Grafen liegen wie Schatten über Angelkow.
Facettenreiche Charaktere
Im Mittelpunkt steht das bewegende Schicksal der Gräfin Antonia, die nur eine der interessanten Charaktere darstellt, bei denen auf eine plakative Schwarz-Weiß-Zeichnung verzichtet wird. An Antonia erfährt der Leser beispielhaft die positiven wie auch negativen Seiten, die ihre adlige Herkunft mit sich bringt: Antonia wächst in Reichtum auf und erhält eine umfassende Bildung, vor allem das Klavierspielen wird zu ihrer Leidenschaft. Ihre Freundschaft zu Lilja, der Tochter des Dorfschmieds, muss sie jedoch geheim halten, Leibwächter verfolgen ihre Schritte außerhalb des elterlichen Anwesens und schließlich wird Antonia gegen ihren Willen verheiratet. Graf Konstantin ist durchaus freundlich zu seiner jungen Frau, doch Altersdifferenz und unterschiedliche Interessen der beiden sind zu groß, als dass Liebe zwischen ihnen entstehen könnte. Antonia erscheint als starke, sympathische Frau, die nicht frei von kleinen Fehlern ist, die Schwächen kennt und die gerade dadurch menschlich und realistisch gezeichnet scheint. Antonias größte Schwäche ist der Alkohol, der sie schon seit Kindertagen begleitet. Als junges Mädchen fühlte sie sich durch die älteren Brüder herausgefordert und verschaffte sich Respekt durch Trinkfestigkeit. Inzwischen ist der Griff zur Flasche Antonias bewährtes Ritual bei Problemen; zugleich ist sie bemüht, vor Dienerschaft und Besuchern die Fassade aufrecht zu erhalten. Die Entführung ihres geliebten Sohnes und die Krankheit ihres Mannes bringen Antonia an ihre Grenzen, lassen aber auch neue Stärke in ihr entstehen.
Sehr sukzessive entwickelt sich die Anziehung zwischen ihr und dem geheimnisvollen Grischa. Deutlich früher als die Gräfin erfährt der Leser von seiner Vergangenheit. Das hat seinen Reiz, da es so umso spannender ist, zu verfolgen, inwieweit Antonia ihm Vertrauen schenkt und wie lange Grischa seine Geheimnisse verbergen kann. Der wortkarge Grischa trägt Züge eines Antihelden. Hinter ihm liegen harte Jahre, die ihn zu einem Eigenbrötler gemacht haben, der auf seinen Vorteil bedacht ist. Dennoch ist er nicht skrupellos, kennt Ehrgefühl und versucht, einen großen Fehler wiedergutzumachen.
Zu den komplex gezeichneten Figuren gehört auch Antonias Dienerin Lilja. Die beiden Frauen lernten sich einst als Kinder im Wald kennen und begannen eine heimliche Freundschaft, ehe sie einander entrissen wurden. Jahre später nahm Antonia Lilja als Dienerin zu sich und immer noch ist das vertraute Band zwischen den beiden sichtbar. Das Verhältnis ist jedoch nicht ungetrübt: Lilja kommt ihrer Herrin oft näher, als es die Umstände geziemen; ihrer geliebten Tosja gegenüber nimmt sie sich viele Freiheiten heraus, zudem zeigt sie eifersüchtige Züge. Es ist ein schmaler Grat zwischen Freundschaft, Vertrauen und Abhängigkeit, der hier demonstriert wird und es ist sehr reizvoll, zu beobachten, wie sich das Verhältnis im weiteren Verlauf entwickelt.
Geringe Schwächen
Etwas gewöhnungsbedürftig ist die Struktur des Romans. Die Geschichte steigt zunächst in medias res ein mit der Entführung Mischas, ohne dass der Leser zunächst nähere Informationen über ihn oder seine Eltern erhält - erst nach und nach enthüllen sich die Hintergründe, erfährt der Leser Näheres zu Antonia und ihrem Mann Konstantin. Nach hundert Seiten wird in die Kindheit der Gräfin zurückgeschaltet, um zu veranschaulichen, wie sie und ihre freundschaftlich verbundene Dienerin Lilja sich einst kennen lernten. Über fast 150 Seiten erstreckt sich dieser Rückblick, der schließlich weit mehr als nur Antonias Kindheit beleuchtet und auch ihre Heirat und ersten Ehejahre zeigt; die sehr ausgiebige Rückblende reißt den Leser gegebenenfalls ein wenig aus der Gegenwartshandlung.
Zudem gibt es gegen Ende des Romans eine Enthüllung, die sowohl ab einem gewissen Punkt vorhersehbar als auch etwas konstruiert ist; es hat den Anschein, als habe man damit die ohnehin gegebene Dramatik noch verstärken wollen, es wirkt allerdings ein bisschen zu dick aufgetragen.
Als Fazit bleibt ein sehr unterhaltsamer und anrührender Roman, der sich trotz seines Umfang schnell lesen lässt. Der Schluss bietet Raum für eine mögliche Fortsetzung; ein Wiedersehen mit Antonia wäre willkommen.
Linda Holeman, Goldmann
Deine Meinung zu »Das Lied der Hoffnung«
Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!