Fahlmann
- Mitteldeutscher Verlag
- Erschienen: Januar 2012
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- Mitteldeutscher Verlag, 2012, Titel: 'Fahlmann', Originalausgabe
Wer zum Teufel ist dieser Ich?
Nach dem Unfalltod seines Vaters Armin arbeitet Georg Fahlmann als Aushilfe mit seinem Onkel Jörg im Bestattungsunternehmen der Familie. Georg, Anfang dreißig, studiert und schreibt Literatur. Sein Debüt ist ein Band mit Gedichten, als Avantgarde vermarktet von einem großen Frankfurter Verlag, der bereits einen Titel für das noch nicht existierende zweite Werk von Georg hat. Statt dem Wunsch nach einem weiteren Gedichtband zu entsprechen, arbeitet Georg an einem historischen Roman über den Käferforscher Carl Richard Bahlow, der im Jahr 1910 zur Zeit des Kolonialismus in Deutsch-Ostafrika an einer Expedition teilnimmt und im Auftrag einer Insektenhandlung nach seltenen Arten suchen soll. Georg versucht an mehreren Fronten zu bestehen, seine Seminararbeit über Namen im Werk von Thomas Mann, seinen zweiten Gedichtband und seinen historischen Roman zu schreiben, seine privaten Probleme zu bewältigen.
Kolonialismus
Der historische Roman in Fahlmann hat anfangs seine eigenen Kapitel als ein Roman im Roman und wird zunehmend mit der Gegenwartserzählung verschränkt. Im Deutsch-Ostafrika des Jahres 1910 nimmt der Entomologe Carl Richard Bahlow an einer Expedition teil, auf der er nicht nur nach Käfern Ausschau halten, sondern auch einen vermissten Missionar finden soll. Es gibt Hinweise darauf, dass er zudem einen geheimen Auftrag hat, über den jedoch niemand etwas erfährt. Der historische Roman (in Entwicklung) liest sich wie eine Abenteuergeschichte aus dunklen Zeiten. Die fremde Welt macht den deutschen Expeditionsteilnehmern vielfältig zu schaffen, das Klima, die Fauna. Mit dem Gestus des Herrenmenschen treten sie auf, ihre Überforderung ertränken sie in Alkohol.
Die Political Correctness, die 2013 die Diskussion über Kinderbücher bestimmte, hat in Fahlmann entschieden nicht ihren Ort. Das N-Wort aus beispielsweise Pippi Langstrumpf und Die kleine Hexe ist bei Ecker noch die harmlosere Komponente des Rassismus-Feldes, das in Fahlmann nicht diskursiv beackert wird, sondern in sich und für sich verbleibt, zumal die historische Einordnung diesen Diskurs nicht zulässt.
Ecker verbindet im - nur bedingt - historischen Roman die fiktive Figur Bahlow mit historischen Personen, dem deutschen Paläontologen Edwin Hennig, aus dessen Buch Am Tendaguru: Leben und Wirken einer deutschen Forschungsexpedition zur Ausgrabung vorweltlicher Riesensaurier in Deutsch-Ostafrika (Schweizerbart 1912) reichlich zitiert wird; dem Paläontologen, Geologen, Forschungsreisenden und Führer der Tendaguru-Expeditionen Werner Janensch; H. W. Frickhinger, Herausgeber der Reihe Große Naturforscher; dem französischen Entomologen Jean-Henri Casimir Fabre.
Text von A gleich Welt von B?
Christopher Ecker hat seinen Roman in fünf Bände unterteilt, die einen Umfang von rund 160 bis 260 Seiten haben. Die wichtigsten Personen neben der Hauptfigur und dem Ich-Erzähler Georg Fahlmann sind seine Frau Susanne, Sohn Jens, Onkel Jörg, Kumpel Achim, Heinz, sein Kollege im Bestattungsunternehmen, schließlich der Schriftsteller Winkler. Georg hat seine Frau in Paris kennen gelernt, die Beziehung des Ehepaars hat an Intensität verloren, seit sie im Alltag bestehen muss. Georg glaubt, Susanne betrügt ihn mit ihrem Arbeitskollegen Wolfgang. Es gibt Indizien dafür, die uns aber allein aus der Sicht und Einschätzung Georgs geschildert werden. In einem interessanten Erzählstück spiegelt sich diese Problematik in einem kurzen Exkurs mit kommentierendem Charakter. Georgs Freund Thomas Winkler arbeitet angeblich an einem Roman mit dem Titel Ohne Alice, eine Liebesgeschichte und eine Kriminalgeschichte, erzählt über den Umweg des Inventars. Georg hält die Grundidee für ausgezeichnet - "vorausgesetzt, sie ist nicht geklaut". Genau das ist sie aber.
Anfangs sind beide Erzählungen, die Georgs und die im historischen Roman, nach Hauptteilen sauber getrennt, doch bald ist ein verhaltenes Einschleichen ("Doktor Bahlmann?") zu beobachten. Hat die Handlung zu Beginn noch eine klare Struktur in Zeit und Raum, zerfasert sie im weiteren Verlauf. Fahlmann scheint einen Prozess der Desintegration zu durchlaufen, Räume und Zeiten scheinen sich zu überlagern. Namen werden gelegentlich verwechselt oder überlagern einander ebenfalls, genau wie Perspektiven. Ecker verstärkt diese Wechsel durch Veränderungen in der Form. Bisweilen stellt sich bei einer Figur das Gefühl ein, sie läse über sich selbst in einem Buch. Die bekannte Frage "Wer spricht?" wird wiederholt, nicht nur explizit, gestellt.
Hinter fiktionalen Figuren werden welche aus dem Alltagsleben Georgs sichtbar, der sich beizeiten und wiederholt selbst interviewt. Der Text enthält überraschend eingestreute Drehbuchpassagen und codierte Sequenzen. In seiner Form erinnert Fahlmann an einige im Roman explizit angeführte Texte und Autoren, besonders aber an den nicht genannten Robert Anton Wilson, der beispielsweise in Masken der Illuminaten ähnlich verfährt. Die Mischung aus Fabulierlust, intellektuellem Tiefgang mit gelegentlichen Ausflügen in flache Gewässer und Pfützen, von Kalauern und angefangenen Witzen bis zu Slapstickszenen, ist durchaus komisch zu lesen,
Georgs Seminararbeit über Namen bei Thomas Mann wächst sich in absurder Weise aus zu einer Magisterarbeit und einer Dissertation, aus der er wiederum über Zusammenschreiben die Magisterarbeit und die Seminararbeit extrahieren soll, wo er doch längst zu wissen, wenigstens zu ahnen scheint, dass nicht einmal aus der Seminararbeit etwas werden wird. Parallel träumt er von einer Karriere als Schriftsteller. Nach einem mit seinem Freund Achim im Alkoholrausch zusammengerülpsten Band mit Avantgardelyrik will sein angesehener Verlag einen zweiten Band, eine Fortsetzung des erfolgreichen Unsinns. Während Georg seinen historischen Roman schreiben will und auf Lesungen ein Publikum trifft, an dessen Verstand er zweifelt.
Detailreich vereinfachen
Georg Fahlmann erzählt Geschichten aus seiner Vergangenheit, oft komisch oder grotesk. Er erinnert sich, reflektiert das Erinnern und das Schreiben eines Textes, eines Romans, den zu Schreiben manchen Menschen nach eigener Aussage nur die Zeit fehlt (Susannes Kollege).
"Denken heißt vereinfachen. Erinnern heißt noch mehr vereinfachen", schreibt Georg einmal, erinnert sich aber in bemerkenswerter Detailfreude. Über die Detailgenauigkeit lässt sich nicht viel sagen. Dieser Blick auf die Details - "Im wirklichen Leben gibt es keine Schlüsselerlebnisse" - zeugt von einer ausgeprägten Aufmerksamkeit für die Umgebung Georgs, der alles zu registrieren scheint. Was im Leben geschieht, kann man als Bestandteil einer deutbaren Geschichte erleben.
Georg denkt die Bedingungen dieser Erinnerungen mit und lässt die Leser daran teilhaben. Er sprengt den traditionellen Erzählrhythmus, Fiktion und Reflexion greifen ebenso ineinander wie Fiktion und Realität, die auch nur wieder Fiktion ist.
"Wessen Text war seine Welt geworden?"
Fahlmann funktioniert auf mehr als einer Ebene. Vordergründig ist er eine fiktionale Biographie, bestimmt durch Ereignisse, die im Sinne von Barthes plappernder Text sein könnten. Auf einer Ebene ist es ein Text, der sich nicht an Leser wendet, um Geld zu erwirtschaften, sondern um gelesen zu werden. Besonders auf dieser Ebene macht die Sprache die Lust auf die Lektüre aus.
Eine Lektüre betrachtet die Geschichten und ihre Wendungen, die zu einer Biographie werden, die andere Lektüre erfasst den Text. Es ist wie in einem guten Hitchcock: die Story gibt das "Lesetempo" vor, welches jedoch für die zweite Ebene der Lektüre zu hoch ist. Es folgt eine Lektüre der zwei möglichen Geschwindigkeiten, darin der Entwicklung in der Europäischen Union nicht unähnlich. Gelegentlich gibt es einen Exzess an Präzision, der jedoch nicht langweilt.
Fahlmann kann auch literaturwissenschaftlich behandelt werden, sehr wahrscheinlich mit hoher Ertragsperspektive. Wer sich nicht durch die Ausführungen der Hauptfigur zur Akademia und deren Texte bearbeitendem Personal abschrecken lässt, kann the full Monty anwenden. Natürlich lässt Fahlmann sich auch mit Lacan lesen. Dann sollte ein freudvolles Fundament vorhanden sein, weil Herr Ecker darin, so möchte es wenigstens scheinen, einen der bevorzugten Baustoffe sieht.
Literatur über Literatur
Christopher Eckers Fahlmann ist Literatur, die von Literatur als komplexem Prozeß handelt, Metafiktion in ihrer besten Form. Unterhaltsam und anspruchsvoll wie John Barths Der Tabakhändler und Robert Anton Wilsons Masken der Illuminaten.
Christopher Ecker, Mitteldeutscher Verlag
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