Die letzte Kränkung
- Mitteldeutscher Verlag
- Erschienen: Januar 2014
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- Mitteldeutscher Verlag, 2014, Titel: 'Die letzte Kränkung', Originalausgabe
Seelenzustände
Ein Fischerdorf in der Bretagne zur Zeit der deutschen Besatzung, im zweiten Jahr des Zweiten Weltkriegs. Ein Mann ohne Namen, der Ich-Erzähler, wahrscheinlich ein Deutscher, wohnt in einem Hotel und wartet, vielleicht auf einen Auftrag oder eine Kontaktperson. Er scheint schon länger zu warten, bekommt er doch vom Dorfpfarrer regelmäßig Geld, um seinen Alltag zu finanzieren. Außer zum Pfarrer hat er Kontakt zu der Dorfbewohnerin Solange, gelegentlich schlafen sie miteinander, zu seinem Wirt Rudolphe und dessen Kater Monsieur Miou. Ein seltsamer Holländer, eine mysteriöse Gestalt mit Metallhand und Wehrmachtsangehörige scheinen etwas von ihm zu wollen. Im Fußboden seines Zimmers befindet sich ein gut einen Meter langer Schlitz. Das Zimmer wird heimlich durchsucht.
Eine Novelle in romantischer Tradition
Christopher Ecker, dessen erste Veröffentlichungen zwei Erzählungen im Jahr 1994 waren (Das verlorene O und Sulewskis Tag), hat mit Die letzte Kränkung sein elftes Buch publiziert. Der Roman, der mit seinen knapp 120 Seiten eher eine Novelle ist, spielt an einem eng abgezirkelten Ort und kommt mit wenigen Figuren aus. Er enthält Elemente der Phantastik.
Der Erzähler träumt in der Nacht, oder die Dinge geschehen tatsächlich, auch wenn er Ortswechsel vornimmt, am Morgen aber überraschend wieder in seinem Bett liegt. Vielleicht erlebt der Erzähler Episoden und Szenen als Tagträume, die sein unbewusstes Verlangen repräsentieren, eine Realität zu verändern, die ihm unangemessen erscheint, die ihn überfordert. Seine Erinnerungslücken füllen will er offenbar nicht. Stattdessen trinkt er viel Alkohol, feiert mit den Dorfbewohnern. Er scheint umgeben von feindlichen Agenten. Solange sieht in ihm bisweilen ihren verschollenen Ehemann Yann. Ist der Erzähler Yann, ist er dessen Doppelgänger? Nehmen die Dorfbewohner eine Kopie für ein Original, wissen Sie, mit wem sie es zu tun haben? Verwechselt Solange ihn mit Yann, oder geschieht dies absichtsvoll? Woher kommt der Schlitz im Fußboden seines Hotelzimmers, welche Bedeutung hat er für die Erzählung, für den Erzähler?
Menschen im Dorf kennen den Protagonisten, er distanziert sich, siezt die, die ihn mal siezen, mal duzen. Der Kater ist sehr zutraulich, kommt nicht aus Cheshire, aber dennoch könnte der Schlitz im Fußboden ein Rabbit Hole sein. Das Doppelgängermotiv durchzieht vielfältig Die letzte Kränkung. In der Romantik steht es in Zusammenhang mit dem Identitätsverlust, bei Freud mit der Ich-Spaltung.
Der Zweite Weltkrieg und die Nazis sind kein exotischer Raum für eine innere Reise, eine Reise zur Lösung innerer Konflikte des Protagonisten, dafür ist dieser Raum zu sehr im Anriss entwickelt, durch wenige Parameter angedeutet: Ecker erwähnt Wehrmachtsangehörige und Technologien wie die Parabellum 08 (Luger), die eine der wichtigsten Dienstwaffen der Wehrmacht war, die MP 40, seit 1940 Standard-Maschinenpistole der Wehrmacht, sowie den VW Kübelwagen, ein Wehrmachtskraftfahrzeug. Die Welt des Protagonisten wird von den Nazis beherrscht, die als grausame Instanz ähnlich Alfred Hitchcocks Vögeln interpretiert werden können.
Die drei Kränkungen der modernen Menschheit
Sigmund Freud hat 1917 in seinem Beitrag Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse geschrieben, die Menschheit habe im Laufe der Wissenschaftsentwicklung zwei große Kränkungen hinnehmen müssen: die erste durch Kopernikus und die Erkenntnis, dass die Erde – und damit der Mensch – nicht Mittelpunkt des Weltalls ist; die zweite, insbesondere verbunden mit dem Namen Charles Darwin, als sie erfuhr, dass sie nicht die Krone der Schöpfung ist. Freud selbst fügt die dritte und empfindlichste Kränkung hinzu, die er in die Aussage fasst, das Ich sei nicht einmal Herr im eigenen Hause und auf Nachrichten vom Unbewussten angewiesen. Damit verneint er den Menschen als Souverän seiner eigenen Seele. Der Mensch ist zwar noch formell sein eigener Vorstand, hat sich aber im Kern seines Ichs einen Aufsichtsrat geschaffen, den er nicht kontrollieren kann.
Den Protagonisten repräsentiert kein Name (Signifikant), weshalb er etwas anderes braucht, um als Subjekt identifizierbar zu sein. Die Nebenhöhlen dieser Kränkung durchziehen zwei verbundene Illusionen, die der Identität – "Wir alle sind Bündel aus Geschichten" – und die der Kommunikation – man erkennt die Worte, aber in ihrer Verbindung werden sie zu Rätseln. Die dritte Kränkung adressiert Ecker vielleicht im Titel seines Werkes. Vielleicht meint er aber auch eine weitere Kränkung, die der Erzähler als vierte am Ende des Romans kurz anspricht.
Die Geschichte hat keine Auflösung mit erklärendem Charakter. Ecker gibt verstreute Hinweise, die Wege zur Interpretation andeuten, nicht aber zum Verständnis, zumal sie ebenso irreführend wie zielführend sein können. Die Öffnung im Zimmer des Erzählers kann sexuell interpretiert werden, wofür jedoch wenig spricht, ist eher eine Art Wurmloch zwischen zwei Dimensionen. Gibt es den Schlitz tatsächlich, oder besteht er in einer Einbildung? Ist er das Objekt eines Begehrens des Erzählers? Der Erzähler selbst belässt alles in der Schwebe, im Unklaren. Hat er eine verzerrte Wahrnehmung und existiert die beschriebene Welt – einmal wird das Dorf als Kulisse bezeichnet - außerhalb seiner Wahrnehmung überhaupt? Vielleicht ist die Öffnung ein Portal zum Verlassen des Handlungsraums, wenn nicht der Erzählung.
Christopher Ecker beschreibt in seinem Roman Die letzte Kränkung Seelenzustände eines Menschen. Bei der Lektüre stellt sich Unsicherheit ein, weil die Erzählung zwischen dem Realen und dem Imaginären oszilliert. Ein anspielungsreiches und deutungsoffenes Werk, vielschichtig konstruiert, das zum Nachdenken einlädt.
Christopher Ecker, Mitteldeutscher Verlag
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