Die Sonne von Sannar
- Lübbe
- Erschienen: Januar 2014
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- Lübbe, 2014, Titel: 'Die Sonne von Sannar', Originalausgabe
Bewegendes Giraffenschicksal und unterhaltsame Liebesgeschichte vereint
1825: Ägyptische Jäger fangen im Auftrag des Vizekönigs Muhammad Ali Pascha zwei Giraffenkälber ein. Die beiden Tiere sollen jeweils als außergewöhnliche Geschenke an den französischen und den englischen Königshof gesandt werden, um die diplomatischen Beziehungen zu festigen. Zu der Karawane, die die Tiere zunächst per Kamel von Sannar nach Khartum bringt, gehören auch zwei sudanesische Sklavenmädchen. Das Dorf der neunzehnjährigen Zahina und ihrer zwei Jahre jüngeren Schwester Najah wurde von Ägyptern überfallen, die Mädchen sollen als Sklavinnen verkauft werden.
Die Schwestern beweisen jedoch großes Geschick im Umgang mit den Giraffen und sind als einzige in der Lage, sie zu füttern. Fortan begleiten die Mädchen die Reise bis nach Alexandria. Der Preis dafür, dass sie dort nicht als Huren verkauft werden und stattdessen die Giraffen weiterhin pflegen dürfen, ist hoch: Die Schwestern werden getrennt, Zahina reist nach Frankreich, während Najah nach England fährt. Zudem wird Zahina an den nubischen Tierpfleger Atir verheiratet, der ihr mit Gewalt begegnet.
Trost schöpft Zahina aus der zahmen Giraffe Zarafa und aus Pierre Morin, dem Veterinär der Pariser Ménagerie. Der junge Mann nimmt die Giraffe in Alexandria in Empfang und begleitet die komplizierte Reise über Marseille nach Paris. Das Schicksal der Schwestern gestaltet sich schwierig und schmerzhaft: Während Zahina in Paris materiell versorgt ist, leidet sie unter Atirs Brutalität und ihren verbotenen Gefühlen zu Pierre. Najah hingegen hat in London zwar einen väterlichen Freund, doch sie muss in ärmlichen Verhältnissen leben ...
Historie trifft Fiktion
Nach ihren beiden Surinam-Romanen, die sie als Linda Belago verfasst hat, widmet sich Judith Knigge in Die Sonne von Sannar zweien der ersten Giraffen, die nach Europa gebracht wurden. Die wahre Geschichte um die Medici-Giraffe Zarafa, die fast zwanzig Jahre lang in den Pariser Jardin de Plantes lebte und unzählige Menschen faszinierte, vermischt sich hier mit einer ergänzenden fiktiven Handlung zu einem gelungenen Gesamtkunstwerk.
Mehr als 300 Jahre dauerte es, bis mit Zarafa im Jahr 1827 erneut eine Medici-Giraffe lebend europäischen Boden erreichte. Das elegante Tier, das heute ausgestopft in einem Museum in La Rochelle, am Golf von Biskaya, steht, erfuhr zu Lebzeiten große Bewunderung. Zarafa inspirierte Damen- und Herrenmode sowie Seifenhersteller, zierte Porzellangeschirr und fraß einst Rosenblätter aus der Hand des französischen Königs. Berichte und Bilder lassen erahnen, wie sehr dieses exotische Tier die Zeitgenossen faszinierte. Weitaus weniger bekannt ist über die beiden anderen Giraffen, die zu Franz II. nach Wien sowie zu Georg IV. nach London gebracht wurden. Die Londoner Giraffe Acai erhält hier ein ähnlich detailliertes Bild wie Zarafa; die Autorin lässt hier ihre Phantasie spielen, um eine Antwort darauf zu finden, warum die französische Giraffe bewundert und umsorgt wurde, während das englische Tier kränkelte und weitaus früher verstarb.
Die erste Hälfte des Romans befasst sich in erster Linie mit der weiten und beschwerlichen Reise der Giraffen von Afrika nach Europa. Zarafas Weg führt sie von Khartum über den Nil nach Kairo und Alexandria und von dort aus über das Mittelmeer nach Marseille. Von Marseille aus marschiert die Reisegruppe um Zarafa fast sechs Wochen zu Fuß über Land, bis sie in Paris unter großem Jubel empfangen werden. Zarafas Größe und ihre klimatischen Ansprüche stellen ihre Begleiter immer wieder vor große Herausforderungen - etwa wenn in das Oberdeck des Schiffes ein Loch gesägt werden muss, um dem Kopf des Tieres Platz zu verschaffen. Auch in Europa angekommen enden die Schwierigkeiten noch nicht: Das exotische Tier ist nicht jedermann willkommen und muss geschützt werden und auch die Unterbringung in der Pariser Ménagerie birgt ihre Tücken in sich.
Dabei ist die Giraffe bei weitem nicht die einzige historische Gestalt, die in dem Roman auftritt: Professor Saint-Hilaire und sein Sohn Isidore haben Zarafa tatsächlich begleitet, ebenso wie zwei Tierpfleger namens Hassan und Atir, deren Charaktere hier frei ausgemalt werden. Angeschnitten wird auch der interessante Akademiestreit zwischen Professor Saint-Hilaire und dem Naturforscher Georges Cuvier über die Entwicklungsgeschichte der Lebewesen, der zu den berühmtesten Debatten in der Biologiegeschichte gehört. Europas wechselnde Machtverhältnisse mit dem Sturz der Monarchie und dem Aufstieg des Bürgertums fließen ebenfalls dezent in die Handlung ein, so wie auch die Cholera, die als Pandemie den Kontinent von 1826 bis 1841 erschütterte.
Reizvolle Hauptfiguren
Zu den erfundenen Figuren wiederum gehören Pierre Morin und die beiden Schwestern Zahina und Najah, die unter Judith Knigges Feder zu interessanten und vielschichtigen Charakteren werden. Pierre Morin ist ein junger, aufstrebender Veterinär, dessen Vater seinen Karriereweg nie akzeptierte und der sich nun allein durchs Leben schlägt. Er ist kein makelloser Held, der immer sofort die richtige Lösung weiß, doch grundsätzlich erscheint Pierre als sehr sympathische Gestalt mit großer Tierliebe und ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn.
Gewiss ist es keine Überraschung für den Leser, dass sich Pierre schon bald zu der hübschen und entschlossenen Zahina hingezogen fühlt. Die Liebe zu Zarafa verbindet sie, aber eine Beziehung scheint aussichtslos, da Zahina an Atir verheiratet wird. Für Spannung sorgen vor allem die Bewährungsproben, auf die das Verhältnis zwischen Zahina und Pierre gestellt wird. Pierre ahnt lange Zeit nicht, wie schlecht es Zahina in ihrer arrangierten Ehe geht; Zahina wiederum wagt nicht zu hoffen, dass Pierre sich wirklich eine Zukunft mit ihr vorstellen könnte. Für besondere Brisanz sorgt schließlich Najah, die selbst für Pierre romantische Gefühle entwickelt, ohne zu ahnen, dass sie damit zu einer Konkurrentin ihrer geliebten Schwester wird. Die verwickelte Liebesgeschichte zwischen den dreien lenkt angenehmerweise nicht von Zarafas Schicksal ab. Stattdessen gelingt der Autorin der Spagat zwischen einer bewegenden und einfühlsamen Hommage an die eleganten Giraffen und einer dramatischen Gefühlshandlung. Erzählt wird das Schicksal um die drei Menschen und die beiden Giraffen in einem flüssigen Stil, der farbenprächtige Bilder von ägyptischen Landschaften sowie Marseiller und Pariser Trubel heraufbeschwört.
Unterm Strich legt Judith Knigge mit Die Sonne von Sannar einen sehr kurzweiligen Historienroman vor, der nicht nur blendend unterhält, sondern auch Faszination für Giraffen im Allgemeinen und Zarafa im Besonderen weckt.
Judith Knigge, Lübbe
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