Wolfsstadt
- Ars Vivendi
- Erschienen: Januar 2015
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- Ars Vivendi, 2015, Titel: 'Wolfsstadt', Originalausgabe
Ein Noir-Krimi, der in die Abgründe der Menschheit führt
1948: Fritz Lehmann, 30, ist Polizeikommissär beim K1 in München, der Abteilung Verbrechen wider das Leben, und bereitet sich auf seine Laufbahnprüfung vor. Nach seiner Kriegsgefangenschaft und einem Aufenthalt in Amerika, wo er die Vorzüge der Demokratie kennen lernen sollte, ist er vor allem aber als German Liaison Officer tätig und soll, neben Übersetzungen, dafür sorgen, dass die Zusammenarbeit zwischen örtlicher Polizei und CID sichergestellt ist. Sein erster Mordfall führt Lehmann und seinen Vorgesetzten, Kriminalhauptkommissar Anton Hölzl, zum Langwieder See, einem abgelegenen Baggersee vor den Toren der Stadt, in dem die Leiche einer jungen Frau entdeckt wurde. Der Leiche wurden die Beine und der Kopf sauber abgetrennt, was zunächst die Identifizierung erschwert. Erst eine Vermisstenanzeige wenige Tage schwerer gibt den entscheidenden Hinweis.
Bei der Ermordeten handelt es sich um die junge Estin Irina Stepaschkin, und so beginnen Lehmann und Hölzl, deren letzten Tage mühsam zu rekonstruieren. Während die Obduktion keine weiteren Erkenntnisse bringt, sind die Angaben erster Zeugen widersprüchlich. Sie geben nur zu, was man ihnen beweisen kann, alles andere bleibt im Ungefähren. Irina war offenbar dem Alkohol zugeneigt und sicherte sich mit wechselnden Männerbekanntschaften ihren Lebensunterhalt. Eine viel versprechende Spur führt zu den Brüdern Katz, die eine Keksfabrik betreiben, doch die Ermittler werden schnell zurückgepfiffen, da der Fall alles andere als wasserdicht ist. Es dürfe, vor allem gegenüber den Amis, nicht der Eindruck entstehen, die Münchner Polizei ermittele bevorzugt gegen Juden.
"Wissen S, Herr Lehmann, i bin Polizist, Sie san aa Polizist, mir fangen d Leit, und wos des Gricht mit eahna anfangt, des geht uns nix oa. Und des Oanzge, was i noch behalten hab von der ganzen Gardinenpredigt gestern, des is, das mir an wasserdichten Fall brauchen, oiso & mach ma den Fall halt wasserdicht, passt Eahna des?"
"Passt scho..."
Dennoch führen die Ermittlungen immer wieder zu jüdischen Personen, die den Holocaust überlebt haben. Da die Amis weiterhin nach deutschen Kriegsverbrechern suchen, wird es für Lehmann ungemütlich, denn bevor er kollabierte, war er in der Ukraine als OrPo-Mann an Kriegsverbrechen beteiligt ...
Alles liegt in Schutt und Asche, nicht nur die Stadt
Fast jeden Morgen erwacht Fritz Lehmann von Albträumen geplagt, die ihn an die Gräueltaten des Krieges erinnern, an denen er selbst in Litauen sowie einem Wald in der Ukraine beteiligt war. So erfährt man nach und nach nicht nur von der Entwicklung des aktuellen Mordfalles, der vorübergehend, mangels neuer Erkenntnisse, einzuschlafen droht, sondern auch alles über den ehemaligen Ordnungspolizisten Lehmann, bevor dieser desertierte und als nicht ostfähig eingestuft wurde, was so viel heißt wie, nicht fähig, auf Frauen und Kinder zu schießen. Kein Wunder also, dass Lehmann ins Schwitzengerät als er eine Vorladung der Alliierten bekommt und zu seiner Vergangenheit befragt wird. Dabei zeigt sich, dass Lehmann mitunter noch stark in seinem alten Denken verhaftet ist. Wenngleich er sich zunehmend für Demokratie und vor allem für amerikanische Musik interessiert, so ist das alte Denken von der überlegenen Herrenrasse noch auffällig intakt und bricht sich manchmal seine Bahn.
Detaillierter, aber gewöhnungsbedürftiger Erzählstil
Die Ermittlungsarbeit der Polizei, die amerikanische Swing-Szene mit aufkommendem Bebop, die furchtbaren Erlebnisse jüdischer Gefangener im Ghetto von Kowno sowie in verschiedenen Konzentrationslagern einschließlich Auschwitz und Lehanns eigenes Verschulden werden haarklein beschrieben. Ein schonungsloser und brutaler Krimi-Noir, der die Kriegsverbrechen der Nazis und ihrer Helfer bis ins Kleinste gehend offen legt.
Dabei berichtet der Autor immer aus der Perspektive seines Protagonisten, was die Sache nicht nur authentischer macht, sondern dem Leser noch mehr zusetzt. Lehmann ist eigentlich ein sympathischer Charakter, dem man wünscht, endlich in der Nachkriegszeit anzukommen, es als neuer, demokratischer Deutscher endlich zu packen, um dann gleich wieder von einigen seiner Gedanken zurückgeworfen zu werden, da es bis dahin offenbar noch ein langer Weg ist.
"Wissen Sie, was Sie haben? Sie haben ein schlechtes Gewissen, und das ist alles, was Sie haben ... Sie möchten gerne ein neuer Mensch sein, die Amerikaner mögen, Jazz hören, Whisky trinken, alles vergessen, was passiert ist, an die Demokratie glauben, ja, das möchten Sie, aber Sie können nicht, weil Sie das alles nicht wirklich vergessen können ... Was haben Sie getan, Lehmann, im Krieg, was haben Sie getan ...?"
Dazu ein packender Erzählstil, der allerdings eine Schwäche hat. Autor Bernd Ohm wählte nach eigenen Angaben die Technik des Bewusstseinsstroms, was für den Leser vor allem bedeutet, sich mit elendlangen Sätzen auseinandersetzen zu müssen. Da erinnert man sich gerne an den Ausruf "Mach mal nen Punkt". Stattdessen Bandwurmsätze, die gerne über zehn, zwanzig Zeilen gehen. Der längste Satz, der dem Rezensenten auffiel, ging über rekordverdächtige 32 (!) Zeilen, was nicht nur inhaltlich irritiert, sondern auch anstrengend zu lesen ist. Dagegen überzeugen zahlreichen Dialekte, die selbst einem Robert Hültner zur Ehre gereichen. Fazit: Wolfsstadt ist nahezu uneingeschränkt zu empfehlen, sofern man sich das Grauen des Krieges und den Wahn der Nazis noch mal (wie gesagt: sehr detailliert) vor Augen führen möchte.
Bernd Ohm, Ars Vivendi
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