Die Bertinis
- Fischer
- Erschienen: Januar 1982
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- Fischer, 1982, Titel: 'Die Bertinis', Originalausgabe
Ein intensives und berührendes Zeitzeugnis auf höchstem literarischem Niveau
Hamburg, 1933. In ihrer kleinen Wohnung im Hamburger Stadtteil Barmbek lebt die Familie Bertini: Vater Alf, Wunschkind eines Dirigenten und - jedenfalls nach eigener Auffassung - stets verhindertes Wunderkind. Seine Frau Lea, Mutter aus tiefster Überzeugung. Die Söhne Cesar und Roman, aus armen Verhältnissen stammend und in ihrer Schulzeit damit konfrontiert. Doch etwas macht die Familie Bertini in genau jener Zeit zu einer Familie, die anders ist als die anderen. Lea ist Jüdin - nach den Nürnberger Gesetzen sind die Söhne Halbjuden. Im April 1933 machen die Bertinis erstmals die Bekanntschaft der örtlichen Rasse-Gestapo - symbolisch für den Beginn von Verfolgung und Flucht, von Entbehrungen, von körperlicher und seelischer Verunstaltung durch ein unmenschliches Regime. Doch es ist auch eine Geschichte vom Überleben ...
Ralph Giordano, Journalist und Publizist, beschäftigt sich in Die Bertinis mit einem Schicksal während der NS-Zeit, das bei der intensiven Aufarbeitung der Epoche etwas an den Rand gedrängt wird: das Schicksal der Menschen, die die Nürnberger Rassegesetze als Halbjuden bezeichnete, also all jene, die einen jüdischen und einen arischen Elternteil hatten. Ihr Schicksal unterschied sich teilweise merklich von dem der sogenannten Volljuden, doch Verfolgung, Unterdrückung und Lebensgefahr waren auch bei Ihnen ständige Begleiter. In seinem autobiographischen Roman Die Bertinis arbeitet Ralph Giordano, der 2014 verstarb, seine eigene Familiengeschichte auf und wirft einen beklemmenden und intensiven Blick auf das düsterste Kapitel der deutschen Geschichte.
Familiengeschichte, die unter die Haut geht und fassungslos macht
Die reale Familiengeschichte Giordanos bildet die Vorlage für die Romanhandlung. Es ist eine Geschichte, die ganz im Zeichen ihrer Zeit steht. Für eine Familie, deren Mutter eine Jüdin ist, bedeutet dies vor allem Verfolgung und Lebensgefahr. Doch die bedrückende Lebensgeschichte Ralph Giordanos sticht aus der Masse der Erlebnisberichte aus dieser Zeit hervor - stilistisch wie inhaltlich.
Selten ist es einem Autor gelungen, die andauernde Atmosphäre von Angst so intensiv darzustellen. Der schleichende Beginn des Antisemitismus, der sich unter anderem in der Diskriminierung der Söhne an der Schule ausdrückt und die Kinder rasend schnell mit Problemen konfrontiert, die selbst Erwachsene kaum ertragen können; die ständige Bedrohung durch die Gestapo. Die Flucht und mit ihr verbunden die Angst, ausgeliefert und verraten zu werden. Aber auch die Angst, andere Menschen mit ins Unglück zu stürzen. Neben diesem Elend haben die Bertinis - allesamt überzeichnete Figuren, bei denen der Leser jedoch manchmal innehält und sich fragt, wieviel tatsächlich Überzeichnung ist - und wieviel entsetzlich Realität - auch mit ihren Alltagsproblemen zu kämpfen. Mit der Geltungssucht und der Raserei des Vaters, mit dem nahezu unstillbaren Appetit - in jeder Hinsicht - des ältesten Sohnes, mit den Großeltern mütterlicherseits.
Ein ausgezeichneter Stil und eine Botschaft, die lange nachklingt
Neben einer intensiven und berührenden Geschichte überzeugt der Autor vor allem durch seinen Stil, dem man anmerkt, dass es der eines Profis ist. Das macht allerdings bei weitem noch keinen lesenswerten Stil. Doch dieses dicke Mammutwerk von knapp 800 Seiten in kleingeschriebener Schrift lässt sich so gut lesen und zieht den Leser so sehr in die Geschichte, dass man dem Autor nur einen Erfolg auf ganzer Linie attestieren kann.
Am Ende jedoch - nach der erfolgreichen Rettung, soviel darf vorweg genommen werden - bleiben Leser wie Bertinis ein wenig ratlos, fassungslos und traurig zurück. Denn obwohl der Krieg zu Ende ist, bedeutet dies keineswegs: Ende gut, alles gut. Viel mehr stehen die Bertinis vor einer neuen Herausforderung, sie stehen vor staatlichen Hindernissen - und sie stehen vor dem Antisemitismus, der auch im Deutschland des Jahres 2015 nicht verschwunden ist und im Gegenteil wieder Zulauf erhält. In solchen Zeiten sind die Stimmen der Überlebenden aus der Nazizeit wichtiger denn je. Und deswegen ist Die Bertinis nicht nur ein besonders intensives und gutes Buch, sondern auch ein wichtiges Buch.
Ralph Giordano, Fischer
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