Überall die Fremde

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  • Erschienen: Januar 2015
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  • , 2015, Titel: 'Überall die Fremde', Originalausgabe
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Jörg Kijanski
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Histo-Couch Rezension vonNov 2015

Ein beklemmender Flüchtlingsroman

Anfang des 19. Jahrhunderts folgten zahlreiche deutsche Siedler dem Ruf der russischen Kaiserin Katharina und gründeten am Schwarzen Meer etliche Siedlungen, die ihnen bekannte Namen wie Worms, Karlsruhe und Speyer erhielten. Dank ertragreicher Erde und harter Arbeit der "Schwarzmeerdeutschen" wurde die Ukraine zur Kornkammer Europas. In Speyer bewirtschaftet die Familie Kuhn einen Hof, der sich schon seit Generationen in Familienbesitz befindet. Doch die Zeiten haben sich geändert, denn die Bolschewiken haben die Macht mit aller Härte an sich gezogen; es lebe der Kommunismus und damit das Staatseigentum. Gearbeitet wird in Kolchosen, alles gehört der Gemeinschaft, privates Eigentum wäre ja noch schöner. So erlebt das Mädchen Petronella eines Tages, wie das gesamte Mobiliar des Hofes vernichtet wird. Die Tiere sind da schon längst vertrieben, doch nun sollen auch die Menschen vertrieben werden. Die Hoffnung von Großmutter Pauline liegt ganz auf den Deutschen, deren Soldaten schon vor Kiew stehen. Die Familie will ihre Heimat um keinen Preis verlassen, muss jedoch mit aller Brutalität erleben, dass die deutschen Soldaten keineswegs besser sind. Zudem sollen alle Deutschen "heim ins Reich" geholt werden. Eine abenteuerliche und lebensgefährliche Reise beginnt...

Krieg und Vertreibung aus der Sicht eines Kindes

Petronella Bausenwein, Jahrgang 1935, wuchs in Speyer (Ukraine) auf und erinnert sich Jahrzehnte später, gemeinsam mit dem Autor Andreas Thomas, an die dramatischen Jahre ihrer Kindheit. Auf ihren Erinnerungen basiert der biografische Roman Überall die Fremde, in dessen Mittelpunkt neben der sechs- bis zehnjährigen Petronella (1941-1945) vor allem deren Großmutter Pauline steht, die sich als wichtiger Anker der Familie herausstellen soll. Erzählt werden nicht nur zu Beginn die Gräuel der russischen und später der deutschen Soldaten, sondern vor allem die Jahre dauernde Flucht über Ungarn und Polen bis sie eines Tages tatsächlich "heim im Reich" sind; einer Heimat, die sie nicht kennen und in der sie alles andere als willkommen sind.

 

"Das war hier nicht ihr Land, nicht ihre Welt, auch wenn da irgendwer behauptete, dass alles, was man als deutsch bezeichnete, zusammengehören musste. Als ob gemeinsames Geld, Volkstumsausweise und amtliche Zuordnungen dazu ausreichten, einen innere Verbindung zwischen Menschen zu schaffen. Die Leute hier glaubten anscheinend ernsthaft, dass sie irgendwo im Osten aus Erdlöchern gekrochen waren und alle Qualen dieser Welt auf sich genommen hatten, um dieses gelobte Land zu erreichen. Es war diese Anmaßung, der wie ein Stachel in ihrer Seele saß."

 

Die Flucht zerreißt die Familie schon beim Verlassen von Speyer, da Vater Johann sich auf einer Versorgungsfahrt für die deutsche Armee befindet und somit Großmutter Pauline mit ihrer Tochter und den drei Enkeln (Petronella ist das älteste Kind) alleine aufbrechen muss. Die Fahrt entwickelt sich zum Himmelfahrtskommando, denn der Zug bleibt mehrmals auf offener Strecke stehen, da die Lok für Wehrmachteinsätze benötigt wird. Es wird bitterkalt, die Lebensmittelvorräte sind aufgebraucht und Fliegerangriffe der sich nähernden Russen nehmen zu. Oftmals müssen sie tagelang mit anderen Flüchtlingen durch Wälder streifen und können sich teils nur von Schnee ernähren. Während die russische Armee vorrückt, zieht sich die deutsche Armee zunehmend zurück und vernichtet dabei wichtige Brücken, um den Gegner aufzuhalten. Doch auch die Flüchtlinge stehen hierdurch vor Problemen.

Heimat, welche Heimat?

Das große Ziel ist zunächst das Wartheland in Polen, doch dort stoßen sie als Deutsche auf schroffe Ablehnung. Verständlicherweise, wobei es interessant ist zu lesen, wie Petronella als Kind die Situation zu verstehen sucht. Ein Versuch, der in ihrem Alter zwangsläufig scheitern muss. Wie soll man überhaupt den ganzen Irrsinn verstehen? 

 

"Vielleicht haben sie von alledem gehört, was wir durchgemacht haben. Doch glaubst du wirklich, sie können sich nur einen Moment vorstellen, was es bedeutet, ohne Essen und Trinken wochenlang durch dunkle Wälder zu irren, die Füße nicht mehr zu spüren, weil sie erfroren, gebrochen, vom Brand zerfallen oder von Eiter und Blut getränkt sind? Oder denkst du, sie hätten auch nur eine Idee davon, wie es für uns war, als der Bahnhof von Bukarest bombardiert und jene Brücke in Scharnikau gesprengt wurde?"

 

Neben der dramatisch verlaufenden Flucht mit all ihren Gefahren und Tragödien (nicht alle Familienmitglieder werden überleben), stellen sich in dem Roman weitere Fragen, die gerade heute wieder hoch aktuell sind. Was ist Heimat? Was kann man machen, wenn man "einfach nur dazu gehören" möchte, aber einem überall nur Haas begegnet? Für die Polen sind Petronella und ihre Familie die schrecklichen Deutschen, für die Deutschen sind sie schmarotzende Zigeuner aus Russland. Überall die Fremde ist ein intensives, eindringliches, schonungsloses und nachwirkendes Leseereignis, welches neben Bezügen zur aktuellen Flüchtlingskrise (wo sich mitunter die gleichen Fragen stellen) auch längst vergessene Einblicke auf das Leben der (deutschen) Heimatvertriebenen wirft. 

Überall die Fremde

Andreas Thomas, -

Überall die Fremde

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