Die sieben Sinne der Adeliza Golding
- Droemer-Knaur
- Erschienen: Januar 2016
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- Droemer-Knaur, 2014, Titel: 'The Visitors', Originalausgabe
Am Ende wollen wir alle nach Hause
Es ist ein trauriges Schicksal, das der kleinen Adeliza, Tochter aus reichem Haus, beschieden ist: Das Kind kann weder hören noch sehen. Sie lebt eingeschlossen in ihrer kleinen Welt, dem Hof eines Hopfenfarmers im England zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Bis Adeliza auf die junge Farmarbeiterin Lottie trifft, die sofort einen Zugang zu Adeliza bekommt und dem kleinen Mädchen geduldig die Welt der Fingersprache eröffnen. Auf diese Weise holt sie Adeliza nicht nur aus ihrer Isolation, sie gibt ihr auch einen Zugang zu Bildung. Die tiefe Freundschaft zwischen Adeliza und Lottie bleibt auch bestehen, als eine neuartige Operation dem Mädchen das Augenlicht zurückgibt. Adeliza, dank Lotties Hilfe in ihrer ganzen Persönlichkeit gestärkt, will der Freundin etwas zurückgeben. Als Lotties Bruder Caleb in Südafrika, wo das britische Imperium gerade in einen aufreibenden Krieg verstrickt ist, in Schwierigkeiten gerät, ist für Adeliza klar, dass sie ihm helfen will. Zusammen mit Lottie macht sie sich auf den Weg. Nebst ihrer Dankbarkeit treibt die junge Adeliza noch ein anderes Gefühl: Sie liebt den Bruder ihrer Freundin aus tiefstem Herzen. Doch Caleb weicht ihr aus.
Ein ganz spezielles Schicksal
Adelizas Schicksal erinnert ein wenig an die berühmte Helen Keller, eine taubblinde amerikanische Schriftstellerin. Es mag durchaus sein, dass sie der Autorin Rebecca Mascull als Vorbild für ihren Debut-Roman gedient hat. Doch hat Rebecca Mascull ihre Heldin mit einem ganz eigenen Charakter ausgestattet, so dass sich die Geschichte schnell von der gedanklichen Verbindung zu Helen Keller löst und eigenständig wird. Bemerkenswert ist die Ausgestaltung des Charakters der Protagonistin Adeliza. Sie ist trotz ihrer Einschränkung ein lebensfroher Mensch, der offen auf die Zukunft zu geht und das Beste aus ihrer Situation macht. Wohl um diesen Charakterzug etwas unterstützend zu erklären, hat die Autorin ihre Heldin mit einer besonderen Gabe ausgestattet. Einem Sinn, der über die Sinne der nichtbehinderten Menschen hinaus geht und dem Mädchen Zugang zu einer Welt gibt, die den Menschen üblicherweise versperrt bleibt. Die Gabe Adelizas ist zwar ein wichtiges Element im Roman, sie ist aber nicht so hervorstechend, dass jene Leser, die nichts auf Übersinnliches geben, sich davon abhalten lassen sollten, zu diesem Roman zu greifen.
Nahe am Geschehen
Um den Lesern die Geschichte näher zu bringen, hat die Autorin Adeliza als Ich-Erzählerin gewählt. So konnte sie die Gefühle des in ihrer Welt eingesperrten Mädchens ebenso erlebbar machen, wie ihre Sicht auf die Welt, nachdem das Augenlicht zurückgekehrt war. Die Ich-Erzählung holt die Leser sehr dicht an das Geschehen heran. Quasi durch die Sinne der Heldin erleben die Leser ihr Heranreifen, ihre Freundschaft und ihre aufkeimende Liebe zu Caleb, wie auch den Hunger des Mädchens, die Welt zu erleben und zu entdecken. Wo nötig setzt Rebecca Mascull Briefe zwischen den Beteiligten als dramaturgisches Instrument ein. Dies gibt der Geschichte zusätzliche Tiefe. Allerdings hemmen die Briefe auch leicht den Lesefluss, da sie in Kursivschrift gehalten sind, was sich etwas ermüdend auswirkt. Hier hätte der Verlag mit Vorteil auf eine leichter lesbare Schrift setzen sollen.
Starke Entwicklung
Wer nun meint, den Ausgang der Geschichte schon nach kurzer Zeit zu kennen, wird sich mehr als einmal wundern. Rebecca Mascull hält einige Überraschungen bereit und führt die Leser geschickt immer wieder auf neue Wege. Die Story macht eine starke Entwicklung durch und hat ein Ende, bei dem vieles ganz anders ist als vermutet und doch eigentlich ganz stimmig und der Protagonistin vollkommen entsprechend ist. Adeliza macht sich intensive Gedanken darüber, wo sie wirklich hin gehört und gibt hier den Lesern auch eine starke Leitplanke. Denn sie kommt zum Schluss, dass unabhängig wo man schließlich Wurzeln schlägt, alle dasselbe Streben haben: Sie wollen irgendwie nach Hause kommen.
Rebecca Mascull, Droemer-Knaur
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