Prozess auf Tod und Leben
- Milena
- Erschienen: Januar 1948
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- Milena, 1948, Titel: 'Prozess auf Tod und Leben', Originalausgabe
Ein Blick in die menschlichen Abgründe - vor 130 Jahren ebenso wie heute
Ungarn 1882: In dem kleinen, unbekannten Dörfchen Tisza-Eszlár geht das Leben normalerweise einen beschaulichen Gang. Große Aufregungen gibt es keine, und die jüdische Religionsgemeinschaft ist in den Alltag gut integriert. In diesem Dörfchen verdingt die junge Esther sich als Magd und hat unter ihrer Herrin schwer zu leiden. Die Bäuerin Bátori nutzt jede Gelegenheit, ihre erst 14-jährige Untergebene zu schikanieren und zu schlagen. Als sie die von einem Kuhtritt am Fuß verletzte Esther trotz derer Schmerzen auf den langen Weg zum Krämer schickt, sucht das Mädchen Zuflucht bei seiner Mutter, die es aber nicht tröstet, sondern wieder auf seinen Weg schickt. Auf dem Nachhauseweg verschwindet Esther, als sie in die Theiß fällt und ertrinkt. Da sie das letzte Mal in der Nähe der Synagoge gesehen wurde und das Pessachfest unmittelbar bevorsteht, kochen alte Gerüchte über Ritualmorde wieder hoch, und es bricht ein Sturm des Schreckens über Tisza-Eszlár herein ...
In Prozess auf Tod und Leben zeichnet Brunngraber ein treffendes Bild der menschlichen Abgründe: Die Bäuerin Bátori und auch Esthers Mutter haben beide ein schlechtes Gewissen, weil sie das Mädchen so grob behandelt haben. Daher ist es für sie eine Erleichterung, den Juden die Schuld dafür geben zu können. Diese Gerüchte kommen auch Baron von Ónody, dem örtlichen Gutsbesitzer und Reichtagsabgeordneten zu Ohren, der ein ausgewiesener Antisemit ist und das Geschehen sofort für seine Zwecke ausnutzt.
Vermeintliche Ritualmorde, Antisemitismus und andere Lügen
Fasziniert verfolgt man als Leser, wie aus Gerüchten und Hörensagen um drei Ecken Tatsachen werden, an denen niemand mehr rütteln darf. Es werden die Phantasiegeschichten eines Vierjährigen für bare Münze genommen, und sein 14-jähriger Bruder wird durch Drohungen zunächst so eingeschüchtert, dass er alles zugibt, was man ihm in den Mund legt. Später wird er, von seiner Familie getrennt, so gut behandelt und einer regelrechten Gehirnwäsche unterzogen, dass er am Ende selbst glaubt, was er erzählt.
Im Prinzip sind die gemäßigten Ansichten zunächst in der Mehrheit, es gibt viele Stimmen, auch gerade in der Justiz, die Besonnenheit fordern - nur werden sie gnadenlos niedergeschrien. Der Forderung nach Untersuchungen und Verhören wird stattgegeben, in der Meinung, dass es nichts schaden könnte, wenn es ja nichts zu verbergen gibt. Doch der Ankläger ist geschickt ausgewählt, es wird gelogen und gefälscht, dass einem ganz schlecht wird beim Lesen. Sobald die antisemitische Presse - auch im Ausland - von der Sache Wind bekommt, beteiligt sie sich an der Hetze. Die Verteidiger der Juden werden bereits vor Prozessbeginn in den Zeitungen mit allen unlauteren Mitteln diskreditiert und wenn das nicht reicht, auch tätlich angegriffen. Zum Glück gibt es einige Redliche, die standhaft genug sind, trotzdem gegen den Sumpf aus Lügen und Intrigen anzukämpfen - ob es ihnen auch gelingt, soll an dieser Stelle natürlich nicht verraten werden.
Bei der Erzählung hält sich Brunngraber bis hin zu den Namen dicht an die historischen Quellen, so dass ein Werk von großer Authentizität entstanden ist. Geschrieben ist dies alles in einer schönen, unaufgeregten Sprache, die sich trotz mancher Schachtelsätze flüssig lesen lässt. Lediglich die ungewohnten ungarischen Namen stören den Lesefluss hie und da.
Erschreckend aktuell
Die eigentliche Brisanz des Buchs liegt in der Aktualität. Obwohl die beschriebenen Ereignisse vor mehr als 130 Jahren stattfanden, genügt ein Blick in die heutigen Medien und die sozialen Netzwerke um die beschriebenen Mechanismen wiederzuentdecken. Das Verbreiten von Lügen und Halbwahrheiten, das Erheben derselben zur Wahrheit und das Angreifen, Niederschreien und Bedrohen von Andersdenkenden& Die Parallelen sind zutiefst erschreckend. Bertolt Brecht, der auch auf der Rückseite des Buchs zitiert wird, hat es treffend formuliert, als er sagte: Wer nicht aus den Fehlern der Geschichte lernt, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.
Abgerundet wird dieser Roman, den der Milena Verlag neu aufgelegt hat, von einem ausführlichen Nachwort von Klaus Kastberger, in dem er sich auch kritisch mit dem Autor auseinandersetzt. Brunngraber war beispielsweise mit seinen früheren Werken einer der meistgelesenen und meistverdienenden Autoren der Nazizeit, auch wenn er selbst wohl überzeugter Sozialist war. Auch einige Feinheiten der Thematisierung des Antisemitismus in Prozess auf Tod und Leben werden genauer unter die Lupe genommen.
Rudolf Brunngraber, Milena
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