Engel der Themse
- Dryas
- Erschienen: Januar 2016
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- Dryas, 2016, Titel: 'Engel der Themse', Originalausgabe
Atmosphärischer Krimi in viktorianischer Zeit
London, 1864: Immer wieder verschwinden Babys aus dem Armenviertel Seven Dials. Die Menschen sprechen von einem "Schatten", der sie holt; die Polizei unternimmt nichts. Auch der neugeborene Bruder der fünfzehnjährigen Gladys verschwindet, als ihr Bruder Tom einen Moment lang unachtsam ist.
Zur gleichen Zeit erhält die junge, etwas vorlaute Emma Arbeit als Küchenmädchen bei Lord Collingwood. Sie teilt sich ihre Dachkammer mit dem französischen Kindermädchen Louise, das sich um den kleinen Sohn des Lords kümmert. Eines Tages verschwindet der Junge beim Spielen mit Louise im Park. Trotz eines enormen Suchaufgebotes der Polizei bleibt er unauffindbar.
Die verzweifelte Louise wird entlassen und von der Polizei verdächtigt. Schließlich trifft der Verdacht auch Emma, da sie mit Louise befreundet war. Kurzerhand flieht Emma und versteckt sich auf den Straßen Londons vor der Polizei. Hier trifft sie Gladys, mit der sie sich notgedrungen zusammenschließt. Gemeinsam versuchen sie, das Geheimnis um die verschwundenen Kinder und den unheimlichen "Schatten" zu lösen ...
Eintauchen in Londons dunkle Gassen
Das Label "Baker Street" des Dryas-Verlages hat sich viktorianischen Krimis verschrieben, die alles mitbringen, was man mit England im 19. Jahrhundert verbindet, und Engel der Themse versteht es, diese Erwartungen zu erfüllen. Das Armenviertel Londons ist der zentrale Schauplatz, in dem sich die Bewohner auf engstem Raum zusammendrücken. Klare Schilderungen machen hier die unangenehmen Gerüche, den Schmutz, die Krankheiten und den immer gegenwärtigen Alkohol lebendig und versetzen den Leser mitten hinein in eine sowohl faszinierende als auch abstoßende Zeit der englischen Geschichte.
Abwechselnd wird das Schicksal der beiden Protagonistinnen Gladys und Emma erzählt, bis diese im letzten Drittel aufeinandertreffen und sie sich beide mit dem unheimlichen, kinderstehlenden "Schatten" auseinandersetzen müssen. Gladys ist im Armenviertel aufgewachsen, ihren Vater kennt sie nicht, ihre Mutter ertränkt seit vielen Jahren ihren Kummer im Alkohol. Somit ist es an Gladys, für ihre jüngeren Geschwister zu sorgen, insbesondere für ihren Bruder Tom. Dabei schreckt das Mädchen auch nicht vor Prostitution zurück und nutzt kühl kalkulierend die betrunkenen Matrosen, um an ein paar Pennys für das nächste Brot zu kommen. Immer wieder tauchen abgehalfterte Dirnen, betrunkene Männern, zahnlose alten Frauen und diebische Straßenkinder auf und führen einem das Elend der verarmten Gesellschaft vor Augen. Gladys ist aufgrund ihres harten Schicksals abgeklärt und auf ihren eigenen Vorteil bedacht, reagiert daher zunächst auch ablehnend gegenüber Emma und fühlt sich nur ihrem Bruder Tom verpflichtet. Aber man spürt, dass hinter der rauen Fasse doch auch ein solider Gerechtigkeitssinn lauert und sich Gladys trotz ihres schwierigen Lebens ihre Menschlichkeit bewahrt hat.
Auf der anderen Seite steht Emma, die zwar nicht in reichen, aber doch im Vergleich zu Gladys geordneteren Verhältnissen aufgewachsen ist; vor allem lebt sie in einer harmonischen Familie, in der niemand dem Alkohol verfallen ist. Ihr eigentliches Ziel ist es, eines Tages als Ladenmädchen zu arbeiten, doch notgedrungen nimmt sie einen gut bezahlten Job als Küchenhilfe an. Der Leser lernt gleich bei ihrem ersten Auftreten ihre liebenswert-kecke Art kennen, als sie sich als Junge verkleidet, um einen Blick auf den von ihr verehrten Prinz Alfred zu erhaschen. Emma ist recht naiv für ihr Alter und sorgt überdies mit manch vorschnell ausgesprochenem Gedanken immer wieder für amüsante Momente, die die Handlung auflockern.
Solide, aber simple Krimihandlung
Der Kriminalteil dreht sich um die Fragen, wer warum die Babys verschwinden lässt, wie das Verschwinden des kleinen Lords damit zusammenhängt und wie es Emma gelingt, ihre Unschuld zu beweisen. Da Emma eine sehr sympathische Figur ist und das Verschwinden der Kinder durchaus berührt, ist durchweg eine gewisse Spannung gegeben, und dank des einfachen, sehr flüssigen Stils ist die Lektüre sehr kurzweilig. Allerdings darf man keine ausgefeilte Kriminalhandlung erwarten. Das Ende ist nicht sehr überraschend, es gibt keine nennenswerten Wendungen, sondern es fügt sich letztlich alles so zusammen, wie es ein erfahrener Krimileser bereits geahnt hat. Dazu kommt, dass sich die Ereignisse am Schluss sehr überstürzen und die Lösung ein wenig zu einfach herbeigeführt wird. Nicht ganz überzeugend ist auch die Liebeshandlung, die - sehr dezent - eingeflochten wird; sie wirkt ein bisschen gezwungen und nicht sehr glaubwürdig, wie um der Vollständigkeit halber eingefügt.
Aber abgesehen von den kleinen Schwächen ist Engel der Themse ein empfehlenswerter Roman mit Krimiflair für alle Liebhaber des viktorianischen Settings, eine ideale Lektüre für gemütliche Winterabende.
Anne Breckenridge, Dryas
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