Die Stunde des Schmetterlings

  • Blessing
  • Erschienen: Januar 2016
  • 1
  • Blessing, 2016, Titel: 'Het uur van de vlinder', Originalausgabe
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Yvonne Schulze
921001

Histo-Couch Rezension vonSep 2016

Der Mensch verpuppt sich vom Schmetterling zur Raupe

Ein kleines sächsisches Dorf im Jahr 1914: Hier leben Julius und seine drei Freunde Claus, Erich und Theo. Die charakterlich sehr unterschiedlichen Siebzehnjährigen haben allerlei Unsinn im Kopf und wie bei Jugendlichen in ihrem Alter üblich, sind Mädchen und erste amouröse Abenteuer Themen der Gespräche unter den vier Freunden, wo dann auch gerne mal mit Eroberungen geprahlt wird. Das beschauliche und größtenteils in ruhigen Bahnen verlaufende Leben hat ein Ende, als im August 1914 der Erste Weltkrieg ausbricht und die vier Burschen sich in ihrer jugendlichen Naivität von der allgemeinen Euphorie anstecken und freiwillig rekrutieren lassen. Als Helden wollen sie zu ihren Familien und ihren Liebsten zurückkehren, doch auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges gibt es ein böses Erwachen und sie müssen feststellen, dass die hohlen Phrasen der Anwerber nichts mit der Realität zu tun haben.

Die Handlung beginnt mitten im Krieg. Im Juni 1915 steht Julius in den Ruinen einer Kirche in einem fast zerstörten französischen Dorf und will seinem Leben ein Ende setzen. Zu schwer bedrückt ihn die Schuld, die er auf sich geladen hat. Der Pfarrer des Dorfes hält ihn jedoch davon ab und nimmt ihn stattdessen mit zu sich ins Pfarrhaus. Vorurteilsfrei hört dieser ungewöhnliche, gerne mal ins Philosophieren verfallende Pfarrer dem jungen Deutschen zu. Er zeigt Julius seine Schmetterlinge, zu denen er einen besonderen Bezug hat und die für ihn die Krone der Schöpfung sind.

 

"Der Mensch, mein Junge, hätte eigentlich die Krone der Schöpfung sein sollen. Aber wir haben es vermasselt - schon lange vor diesem Krieg."

 

Julius fasst Vertrauen zu diesem unvoreingenommenen Mann, der doch eigentlich sein Feind sein sollte und er erzählt ihm die Geschichte der vier unzertrennlichen Freunde, die aufgebrochen waren, um die Welt zu erobern. Die Gespräche zwischen Julius und dem Pfarrer, zu denen sich noch der Totengräber Lucius gesellt, der ein eigenes tragisches Schicksal hat, dienen hier als Rahmenhandlung.  

Webeling erzählt nicht chronologisch, sondern wechselt kontinuierlich zwischen den Gesprächen im Pfarrhaus, den unbeschwerten Jahren im Dorf und den Geschehnissen auf dem Schlachtfeld. Hinzu kommen noch die Tagebuchaufzeichnungen von Erich. Der Autor zeichnet seine jungen Protagonisten mit Stärken und Schwächen, sie sind keine strahlenden Helden oder unschuldige Opfer. Mit ihren Hoffnungen und Ängsten sind sie zutiefst menschlich und werden so für den Leser greifbar. Keiner von ihnen wird am Ende noch derjenige sein, der er vor dem Krieg war. 

Julius und seine Freunde sind fiktive Personen. Um den Alltag an der Front aber glaubhaft wiederzugeben, hat der Autor auf die Lebenserinnerungen von Menschen zurückgegriffen, die tatsächlich auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs waren, im Nachwort werden sie dann auch namentlich genannt.

Mit wenigen Worten viel gesagt

Bereits auf den ersten Seiten zeigt sich Webelings sprachliches Können. Die gespenstische Stille in dem zerstörten Dorf, der Schlachtenlärm, der Dreck, der Hunger, das Ungeziefer und der Gestank, die ständig präsente Angst in den Schützengräben und die Abgestumpftheit der Soldaten werden so plastisch beschrieben, dass man als Leser das Gefühl hat, unmittelbar daneben zu sitzen. Man freut sich über jeden Hoffnungsschimmer und ist dankbar für all die versöhnlichen Momente, die es hier natürlich auch gibt. Webeling gelingt es, in wenigen Sätzen das auszudrücken, wofür andere Autoren ganze Seiten brauchen, ohne auch nur annähernd dieselbe Wirkung zu erzielen. Hier ist kein Wort zu viel, hier wird nichts um des Effektes Willen ausgeschmückt oder künstlich aufgebauscht. Der Autor lässt mit seiner zurückgenommenen, ja fast schon nüchtern wirkenden Erzählweise die Geschehnisse für sich sprechen.   

Es geht hier nicht um das große Weltgeschehen oder um Politik,  hier geht es um das Schicksal des kleinen Mannes, des einfachen Soldaten, der in einen Krieg getrieben wird, der nicht der seine ist, der in Schützengräben friert und hungert und von einer machtgierigen Elite wie eine Schachfigur herumgeschoben und verheizt wird, während die Kriegstreiber in ihren sicheren Palästen sitzen und die Offiziere warme Unterkünfte und genügend Verpflegung zur Verfügung haben. 

Die Stunde des Schmetterlings ist ein lesenswertes Buch mit authentischen Charakteren, das Unterhaltung auf hohem Niveau bietet. Ein Antikriegs-Epos über vier jungen Burschen, die ihre jugendliche Unbedarftheit und Unschuld auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges verlieren und die ihre Naivität und Verblendung teuer bezahlen müssen. 

Die Stunde des Schmetterlings

Pieter Webeling, Blessing

Die Stunde des Schmetterlings

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