Die Blutlüge
- Gmeiner
- Erschienen: Januar 2016
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- Gmeiner, 2016, Titel: 'Die Blutlüge', Originalausgabe
Vielschichtige Biografie über einen Serienmörder
Das Leben von Ludwig Tessnow, geboren am 15. Februar 1872, stand von Beginn an unter schlechtem Einfluss. So musste gleich eine Nottaufe her, da unsicher war, ob er die ersten Tage überleben würde. Er wohnte zunächst mit seiner Mutter und seinem zu Trunksucht und Gewalt neigenden Stiefvater zusammen, besuchte die Schule, wo er ein Außenseiter war und erfuhr am vorletzten Schultag vom Tod seines Bruders, der sich im Gefängnis selber richtete. Es folgt eine Ausbildung als Tischler, die er mit Bravour meistert, doch es kommt zu einem Zerwürfnis mit seinem Lehrmeister. Er begibt sich auf die Walz, wandert durch die Lande und macht an zahlreichen Orten Station. Lange hält es ihn nirgends, er wird von einer inneren Unruhe getrieben. Zudem trinkt er häufig Alkohol, selbst tagsüber, und gerät immer wieder mit Leuten aneinander. Anfang September 1898 eskaliert die Lage und er ermordet brutal zwei siebenjährige Mädchen in der Nähe von Lechtingen. Doch die Beweislage ist für die damalige Zeit zu dünn, an seiner Kleidung befindliche Blutflecke erklärt er mit Rückständen von Beize, die in seinem Beruf zur täglichen Arbeit gehöre.
"Ja, du bist nicht richtig im Kopf. Na und? Du hast ein ehrliches Handwerk erlernt. Die Meister schwärmen von dir. Du bist fleißig, ruhig, besonnen..."
"Bis der Dämon in meinem Kopf wütet. Dann tue ich Dinge, an die ich mich noch nicht einmal erinnern kann. Kinder zu ermorden! Es geht ja wohl nicht verwerflicher."
Tessnow wird mangels Beweisen freigelassen, aber im Juli 1901 schlägt er erneut zu. Es trifft zwei kleine Jungen, die Ähnlichkeiten zu dem ersten Fall sind offensichtlich. Doch dieses Mal ist die Situation eine andere, denn der Forscher Paul Uhlenhuth hat eine neuartige Methode zur Blutbestimmung entwickelt, den sogenannten Präzipitin-Test. Es kommt zu einem Gerichtsverfahren, in dem es schon bald nicht mehr darum geht, ob er die Morde begangen hat, sondern um die Frage, wie es um seinen geistigen Zustand zum Tatzeitpunkt aussah. Die Psychiater wollen endlich mehr Einfluss bei Gerichtsverhandlungen und erreichen, dass der Geisteszustand der Menschen bei Strafmaßen mehr Berücksichtigung findet ...
Eine neue Methode zur Bluterkennung revolutioniert die Polizeiarbeit
Die Blutlüge von Christiane Gref ist gleich aus mehreren Gründen ein lesenswerter Roman. Zunächst wegen des Mörders selber, der kaum bekannt sein dürfte. Seine Mutter leidet unter Fallsucht, die er von ihr erbt, er hat zudem Halluzinationen und Tagträume, die sich mit großen Erinnerungslücken abwechseln. Deswegen glaubt er bis zuletzt, die Morde nicht begangen zu haben und macht für diese einen Drachen sowie seinen toten Bruder verantwortlich, mit dem er ständig vertrauliche Gespräche führt.
Zum anderen ist der Roman interessant, da mit dem Präzipitin-Test die Polizeiarbeit revolutioniert wird. Erstmals kann man zu Beginn des 20. Jahrhunderts menschliches Blut von Tierblut unterscheiden.
"Mir lässt keine Ruhe, wie verschieden Ärzte sind. Sie geben sich Mühe, hinter die Fassade meiner gestörten Seele zu sehen. Aber dann gibt es die Uhlenhuths in dieser Welt. Denen sind Schicksale gleichgültig. Die ersinnen Methoden, die Verdächtige überführen, und damit haben die ihr Werk vollendet."
"Uhlenhuth ist Biologe und Hygieniker. Er hat nie gelernt, hinter die Fassaden von Menschen zu sehen."
Als letzter Punkt spricht der Kampf der Psychiater vor Gericht für die Lektüre dieses knapp 280 Seiten langen Werkes. Mit Beginn des neuen Jahrhunderts geht es auch darum, ob Menschen zur Tatzeit zurechnungsfähig sind oder nicht und ob dies beim Strafmaß zu berücksichtigen sei. So kommen die Ärzte zu dem Ergebnis, dass Tessnow die Taten zwar begangen, sich zum fraglichen Zeitpunkt aber in einem "epileptischen Dämmerzustand" befunden habe. Dadurch wird sein Todesurteil in eine lebenslange Freiheitsstrafe umgewandelt und die Unterbringung in einer Einrichtung für psychisch Kranke angeordnet. Wie er dann tatsächlich zu Tode kam, ist eine geradezu groteske Anekdote der Weltgeschichte.
In einem sechsseitigen Anhang wird abschließend erläutert, an welchen Punkten die Autorin ihre "dichterische Freiheit" ausgeschöpft hat, sprich, wo sie von den bekannten Fakten abgewichen ist.
Christiane Gref, Gmeiner
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