Wintergewitter

  • Suhrkamp
  • Erschienen: Januar 2016
  • 2
  • Suhrkamp, 2016, Titel: 'Wintergewitter', Originalausgabe
Wintergewitter
Wintergewitter
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Jörg Kijanski
851001

Histo-Couch Rezension vonOkt 2016

Die Folgen des Ersten Weltkrieges wiegen schwer

München, 1920. Kriminalkommissär Sebastian Reitmeyer wird zum "Roten Adler" gerufen. Am Fuß der steilen Kellertreppe liegt eine junge Frau, tot, doch anscheinend brach sie sich nicht das Genick. Ein Unfall? Wenig später herrscht Klarheit. Bei dem Opfer handelt es sich um Cilly Ortlieb, eine "Künstlerin", die sich selber als Schauspielerin bezeichnete, jedoch eher im einschlägigen Milieu aktiv war. Eine Überdosis Heroin oder Morphium wurde ihr zum Verhängnis. Wenig später stirbt eine enge Freundin von Cilly unter ähnlichen Umständen an einer Überdosis. Eine vielversprechende Spur führt Reitmeyer zu Dr. Löber, einem Mitarbeiter im Handelsministerium, der als Verbindungsmann zur bayerischen Filmindustrie tätig ist und Cilly offenbar näher stehen wollte, als es dieser gefiel. Reitmeyer sieht jedoch kein Motiv hinsichtlich des zweiten Opfers, da entscheiden seine Vorgesetzten den vermeintlichen Mörder zu präsentieren. Eine politisch motivierte Handlung, denn ein weiterer Tatverdächtiger ist Mitglied der einflussreichen Einwohnerwehr und soll geschützt werden.

 

"Wenn ein möglicher politischer Hintergrund aufschimmerte, weil eine Tat aus Eifersucht und Habgier nicht sehr wahrscheinlich war, griff man zu kühneren Konstruktionen: Sumpfbewohner im Drogenrausch hatten sich gegenseitig hingemeuchelt. Die Frauen waren verdorbene Subjekte, bewegten sich in einem verdorbenen Milieu und waren durch gleichermaßen verdorbene Subjekte zu Tode gekommen - fernab vom Kreis der rechtschaffenen, vaterländischen Kräfte."

 

Während Reitmeyer und seine Mitarbeiter Gefahr laufen, in ein politisches Minenfeld zu treten, gerät die junge Gerti Blumfeld aus Berlin in Gefahr. Eigentlich ist sie in München, um ihre Schwester zu suchen und fand dabei Unterschlupf bei Cilly. Kurz vor deren Tod übergab ihr eine unbekannte Frau, wie sich später herausstellt das zweite Opfer, einen Umschlag, der offenbar heiß begehrt ist. Gerti sieht sich bald verfolgt, will sich aber nicht der Polizei anvertrauen&

Bedrückende und gewaltgeladene Stimmung herrscht im Land

Der eiserne Sommer spielte im Sommer 1914 kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges, der zweite Band der Sebastian-Reitmeyer-Reihe Wintergewitter spielt rund sechseinhalb Jahre später. Der Krieg ist vorbei, doch die Folgen sind überall spürbar. Die Versorgungslage ist katastrophal, das Geld zunehmend weniger wert. Stattdessen sammeln sich in Bayern "vaterländische" rechtskonservative Kräfte und machen mobil. Die von den Alliierten geforderte Entwaffnung wird hintertrieben, Waffen werden gar nach Österreich verschoben, wo man mit vereinten Kräften von einer Wiedervereinigung träumt. Die Niederschlagung der Räterepublik ist über ein Jahr her, der Kapp-Putsch inzwischen verarbeitet. Zunehmend treiben sich desillusionierte Wehrmachtsangehörige und -offiziere auf den Straßen. Verschlissene Armeemäntel und abgenutzte Stiefel bestimmen das Stadtbild. Die Dolchstoßlegende ist beliebt, die jüdischen Schieber und Kriegsgewinnler an allem schuld. Ein gewisser Adolf Hitler ist der neue Festredner politischer Treffen.

 

"Ich spreche von dem Gesindel, das nach dem Kapp-Putsch im März zu uns nach Bayern geströmt ist. Diese Tausende von ehemaligen Freikorpsleuten, diese Landsknechtsnaturen, die nix gelernt haben außer Schießen und Marodieren. Die von den Preußen rausgeschmissen worden sind, aber bei uns in der Einwohnerwehr freundliche Aufnahme finden, wo sie aber natürlich nicht genug verdienen. Und dann organisieren sie sich eben anderweitig etwas, mit Diebstahl und Einbruch, mit Zuhälterei und Falschspiel und was weiß ich noch."

 

Auch an der Polizei ging der Krieg nicht spurlos vorüber. Polizeischüler Rattler ist noch immer in der Ausbildung. Krieg und anschließende Krankheit verhinderten den Abschluss. Zwei Gasverletzungen setzen seiner Atmung noch heute zu. Reitmeyer ist ebenfalls schwer gezeichnet. Immer wieder überkommen ihn plötzliche Panikattacken, ein Grund, warum er auf Abstand zu seiner Jugendliebe Caroline von Dohmberg geht. Sie soll von seinem schlechten Zustand nichts mitbekommen, was sich für die weitere Geschichte als wichtige Komponente erweisen soll, denn Gerti findet überraschend bei Caroline Unterschlupf. Neben Caroline und Rattler sind auch die übrigen bekannten Figuren aus dem ersten Band wieder mit dabei.

 

"Das soll ein Fleischpflanzl sein? Straßendreck mit Sägmehl verrührt ist das. Das kann doch kein Mensch fressen. Das schmeißt man doch keiner Sau hin!"

"Wurst und ähnliche Produkte müssen fünf Prozent Fleisch enthalten. Ansonsten dürfen Ersatzmittel verwendet werden ... cirka elftausend ..."

"Ersatz, Ersatz! Den ganzen Krieg durch ham wir Ersatz gefressen! Ersatzeier, Ersatzweizen, Ersatzbutter, in der Marmelad ist kein Obst mehr drin, der Mist ist bloß mit Rübensaft gefärbt, und der Fleischanteil in dem Pflanzl... Was sind die fünf Prozent? Hund, Katz oder Ratz? Was steht in der Verordnung?"

"Das ist nicht genau spezifiziert. Aber Ratte wär auf jeden Fall besser als Rattenersatz."

 

Wintergewitter zeichnet sich neben einem spannenden Krimiplot vor allem durch seine atmosphärische Zeichnung aus. Zwielichtige Amüsierlokale und Filmproduktionen blühen auf, die Unterscheidung zwischen Prostituierten und Schauspielerinnen ist nicht immer einfach. Die Mischung zwischen Hunger und Frust, dem Aufkommen nationaler Bestrebungen und andererseits das ausufernde Feiern bar jeder Hemmungen ist beeindruckend und erschreckend zugleich. Denn letztlich weiß ja jeder Leser, was eine gute Dekade später begann.

Wintergewitter

Angelika Felenda, Suhrkamp

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